Rezension über:

Christian Hoffarth: Urkirche als Utopie. Die Idee der Gütergemeinschaft im späteren Mittelalter von Olivi bis Wyclif (= Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne; Bd. 1), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, 309 S., ISBN 978-3-515-11504-9, EUR 54,00
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Rezension von:
Johannes Schlageter
Franziskanerkloster St. Anna, München
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Schlageter: Rezension von: Christian Hoffarth: Urkirche als Utopie. Die Idee der Gütergemeinschaft im späteren Mittelalter von Olivi bis Wyclif, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 4 [15.04.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/04/29800.html


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Christian Hoffarth: Urkirche als Utopie

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Das Editorial, das dem Buch von Christian Hoffarth vorangeht, kündigt eine neue Reihe von Publikationen an, nämlich die "Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne". Nicht nur Europa, sondern der ganze Mittelmeerraum und der Orient bis nach Zentralasien sollen in solchen Studien zur Vormoderne in den Blick genommen werden (5-6). Christian Hoffarths Arbeit selber freilich bleibt im Rahmen üblicher Mittelalterstudien. So setzt Hoffarth die in der lukanischen Apostelgeschichte konzipierte Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde der Jesus-Jünger in Beziehung zur "Idee der Gütergemeinschaft" besonders bei westlichen Denkern des späteren Mittelalters, nämlich bei Petrus Johannes Olivi (um 1248-1298) wie bei John Wyclif (um 1330-1384).

In seiner Einleitung zeigt Hoffarth am Beispiel des deutschen Theologen Gabriel Biel (um 1408-1495) und der Brüder vom gemeinsamen Leben nur eine gewisse Spannung zwischen der normativen Idee von Gütergemeinschaft, wie sie der lukanischen Darstellung der Urkirche entstammt, und ihrer Verwirklichung in einer späteren begrenzten religiösen Lebensform. Revolutionär brisant wurde jedoch die Idee der Gütergemeinschaft bereits damals in ihrer gelegentlichen Übertragung auf die Gesamtgesellschaft. Die weitgespannte Wirkungsgeschichte des lukanischen Konzeptes einer idealen Gemeinschaft, die von der Antike bis in die Moderne reicht, deutet Hoffahrth allerdings nur anhand der Literatur an, die er anführt und kurz bespricht. Er konzentriert sich selbst methodisch auf Exegesen der lukanischen Berichte zur Urkirche, wie sie im Spätmittelalter exemplarisch der provenzalische Franziskaner Olivi und der Oxforder Theologe Wyclif erabeitet haben.

In der Exegese Olivis wirkte noch die Erinnerung nach an die platonische Idee der Gütergemeinschaft und an ihre kritische Rezeption bei Aristoteles. Aber entscheidende Bedeutung für Olivis Sicht erhielten die vermögensrechtlichen Konstrukte, die für den damaligen Franziskanerorden entwickelt wurden, weil sie dessen in der päpstlich anerkannten Regel des Ordens verankerten Verzicht auf gemeinschaftliches Eigentum absichern sollten (38-62). Ganz anders setzte später Wyclif in seinen Überlegungen bereits das theokratische Herrschafts- und Eigentumskonzept voraus, das Päpste wie Bonifaz VIII. und Johannes XXII. auf der Basis der papalistischen Theologie des Aegidius Romanus (um 1243-1316) vertraten. Demnach geht alle Herrschaft (dominium) über die irdischen Güter von Gott aus und kommt über Christus der Kirche zu. Sie verleiht dieses dominium in der Autorität des päpstlichen Stellvertreters Christi als Recht nur denen, die durch Glauben und Sakramente sich in ihren Dienst stellen und kann es daher bei Verweigerung dieses Dienstes wieder entziehen. Die gemäßigte Übernahme dieser Konzeption durch den irischen Erzbischof Richard FitzRalph (um 1300-1360) sollte den Anspruch des Klerus auf Macht und Reichtum der damaligen Kirche sichern (183-203). Diesem klerikalen Zugriff auf irdische Güter konnte allerdings John Wyclif nur widersprechen, weil von Gott her über Christus nur der ganzen Glaubensgemeinschaft der Erwählten alles dominium zukommt. Die unterschiedlichen Auslegungen der lukanischen Berichte über die Urkirche, die Olivi wie Wyclif so aufgrund ihrer ganz verschiedenen Voraussetzungen entwickelten, stimmten nur überein in der scharfen Kritik am Umgang von Klerus und Orden mit Reichtum und Macht; denn in der Sicht von Olivi und erst recht von Wyclif erhoben Kleriker und Ordensleute aufgrund einer angeblich geistlichen Autorität zu Unrecht Anspruch auf Herrschaft, Eigentum und unbegrenzten Gebrauch irdischer Güter.

Petrus Johannis Olivi ist motiviert von der Erwartung einer spirituellen Erneuerung der verderbten Kirche insgesamt und besonders seines vom Ursprung abgewichenen Ordens im Geist des Franziskus von Assisi (62-182). Wenn Olivi dabei seine Vorstellung einer in höchster Armut erneuerten franziskanischen Lebensform in sein Bild von Urkirche eintrug, blieb er im Rahmen mittelalterlicher Exegese und bedurfte keiner "Überbetonung eines wenig stichhaltigen sensus spiritualis", wie Hoffarth meint (75). Von einem sensus spiritualis ist in Olivis Exegese der lukanischen Berichte nie die Rede, da er seine Auslegung durchaus als Erhellung ihres Literalsinnes verstand. Das ideale Szenario, das die lukanische Apostelgeschichte von der Urgemeinde zeichnete, ließ freilich nach Olivi im Lauf der Geschichte verschiedene Deutungen und Konkretisierungen zu. Insofern war selbst nach Hoffarth eine franziskanische Deutung der urkirchlichen Gütergemeinschaft, der Olivi nun für seine Zeit und im Blick auf die Zukunft den Vorzug gab, "systemimmanent betrachtet in höchstem Maß konsequent und plausibel" (118). Eher ungewöhnlich für das Mittelalter sprach dagegen John Wyclif weltlichen Obrigkeiten eine Verfügungsgewalt zu, womit sie die zu Unrecht von Klerus und Orden "privat" angeeigneten irdischen Güter wegnehmen und einem sinnvollen Zweck zuführen durften. Das sollte in der Konzeption Wyclifs einer der Urkirche entsprechenden 'Vergemeinschaftlichung' kirchlicher Güter dienen (203-262).

Obwohl die komplexen Gedankengänge Olivis und Wyclifs in rebellischen Strömungen und Gruppen vereinfacht weiterwirkten, erscheint es doch problematisch, beide Denker als "Häresiarchen" zu bezeichnen (30). Deren posthume Verketzerung sollte meines Erachtens nicht überbewertet werden. Allerdings ist Wyclif, anders als früher Olivi, später auf dem Konzil von Konstanz 1415 von der Westkirche namentlich verurteilt worden infolge seiner antihierarchischen Konzeption einer unsichtbaren Kirche der Erwählten, ohne dass jedoch sein zukunftsweisender Reformwille gewürdigt wurde. Einseitigkeiten im jeweiligen Bild von urkirchlicher Gütergemeinschaft lassen sich bei den realen Reformvorhaben Olivis und Wyclifs jedoch nicht als "Utopie" oder gar als "utopistisch" abtun, wie Hoffarth es besonders bei Olivi versucht (84) und damit meines Erachtens eine spirituell-religiös motivierte und begründete Erwartung kirchlicher und sozialer Erneuerung und das entsprechende Engagement zu sehr problematisiert. Bei Petrus Johannis Olivi wie bei John Wyclif stand hinter dieser Erwartung die Überzeugung, das Idealbild der Urkirche ginge zurück auf eine reale sozioreligiöse Erfahrung neuer geglückter Gemeinschaftlichkeit. Dieser Überzeugung ließe sich nur mit einer ernsthaften modernen Exegese der entsprechenden lukanischen Berichte in der Apostelgeschichte nachgehen, vielleicht mithilfe der Arbeiten von Gerd Theißen zur Soziologie des Urchristentums. Das aber ginge weit über die ideengeschichtliche Methode und Zielsetzung von Hoffarths Hamburger Dissertation von 2015/16 hinaus, die ohnehin bereits ein Fülle von Informationen und Überlegungen zur mittelalterlichen "Idee der Gütergemeinschaft" bietet, die nur andeutungsweise beschrieben werden konnten.

Johannes Schlageter