Rezension über:

Dietrich Worbs: Das Kino "International" in Berlin, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2015, 160 S., 49 Farb., s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2711-6, EUR 19,95
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Rezension von:
Claudia Tittel
Bauhaus-Universität, Weimar
Redaktionelle Betreuung:
Oliver Sukrow
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Tittel: Rezension von: Dietrich Worbs: Das Kino "International" in Berlin, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 5 [15.05.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/05/27273.html


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Dietrich Worbs: Das Kino "International" in Berlin

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Das Kino "International" gehört zu den prominentesten Gebäuden Berlins. An der "Prachtstraße" in Ost-Berlin, der Karl-Marx-Allee gelegen, wurde es von Josef Kaiser im zweiten Bauabschnitt der Stalinallee 1961-64 errichtet und sollte die Überlegenheit des sozialistischen Staates gegenüber dem Westen auch architekturästhetisch widerspiegeln. Dabei kehrte sich der Architekt von dem nach sowjetischen Vorbild adaptierten neoklassizistischen Baustil des ersten Bauabschnitts ab und wandte sich einer modernen Architektursprache zu, die die neue sozialistische Gesellschaft verkörpern sollte.

Das Kino "International" bildete mit den beiden Nachbargebäuden, dem Hotel "Berolina" und dem Café "Moskau" das städtebauliche Zentrum des neu entstandenen Wohngebiets in aufgelockerter Bebauung zwischen Alexanderplatz und Strausberger Platz, das nicht nur als Antwort auf die INTERBAU 1957 in West-Berlin zu verstehen ist, sondern von ihr inspiriert war. Das "International" spielt dabei eine besondere Rolle, da es nicht nur ein Prestigeprojekt der DDR war, sondern bis heute als Solitärbau ein Highlight der Berliner Baugeschichte geblieben ist. Aufgrund seiner außergewöhnlichen architektonischen Gestalt und seiner großzügige, luxuriösen und ausgewogenen Innenausstattung bis ins Detail offenbart es die Anschlussfähigkeit der DDR-Architektur an eine internationale Architektursprache und zeigt exemplarisch die Weiterführung und -entwicklung des Formenvokabulars des Neuen Bauens im sozialistischen Deutschland. Nie wieder, so viele Stimmen, sei die sozialistische Architektur so elegant gewesen.

Insofern verwundert es nicht, dass sich der Bauhistoriker und Architekt Dietrich Worbs diesem außergewöhnlichen Gebäude widmet und es einer genaueren Analyse unterzieht, wobei er sich nicht nur mit der Baugeschichte des Kinos selbst, sondern seiner Umgebung und dem ersten und zweiten Bauabschnitt der Stalinallee auseinandersetzt und diesen in die politischen und historischen Ereignisse einordnet.

Worbs hat im Vorfeld der Recherche viele Zeitzeugen aufgesucht, mit ihnen Interviews geführt, sowie zahlreiche Archivalien ausgewertet. Als jahrelanger Mitarbeiter des Berliner Landesdenkmalamts hatte er nicht nur Zugriff zu den verschiedensten bautechnischen Dokumenten, was sich auch in den Anmerkungen zeigt, sondern bringt vor allem ein praktisches Verständnis für bauliche Entscheidungen mit.

Das Buch ist in sieben chronologische Kapitel unterteilt. Nachdem der Bau in Kapitel 1 vorgestellt wird, widmet sich Kapitel 2 dem Bau des I. und II. Bauabschnitts der Stalinallee und bezieht dabei auch die Lebensläufe der Planer und Architekten des Entwurfs mit ein, was an manchen Stellen recht langatmig ist, jedoch die architektonische Herkunft der Architekten offenbart und somit die Vorbilder für den Entwurf biografisch erläutert und erklärt. Kapitel 3 beschäftigt sich mit Planung, Bau und Gestaltung des Kinos "International" und würdigt die gestalterische und konzeptuelle, vor allem aber auch bautechnische Komplexität des Mehrzweckgebäudes, das eine Bibliothek und einen Club beinhaltete, und sowohl architekturästhetisch-funktionale Anforderungen erfüllen musste, als auch als Repräsentationsbau eine neuartige und spektakuläre innere und äußere Gestaltung bieten sollte. Während in Kapitel 4 die Betonreliefs aus Steinguss von Waldemar Grzimek, Hubert Schiefelbein und Karl-Heinz Schamal Gegenstand der Betrachtung sind - und dabei die bauplastische Gestaltung einer Kunst am Bau reflektiert wird -, stellt Kapitel 5 das "International" als Premierenkino und somit als wichtigen Ort der Filmgeschichte vor. Schließlich geht Worbs in Kapitel 6 dem Schicksal des Baus nach 1990 nach und skizziert in Kapitel 7 einen Rück- und Ausblick.

Der Autor, und dies formuliert er im ersten Kapitel dezidiert, möchte mit seiner Publikation helfen, "die bisherigen Auffassungen von der DDR-Nachkriegsmoderne in vielerlei Hinsicht zu differenzieren." (10) Sein Interesse an einer wissenschaftlichen Würdigung des Gebäudes ist sicher dem Umstand zu verdanken, dass die Wahrnehmung der Architektur der DDR insgesamt gestiegen ist, befeuert durch das erstarkte Interesse an der Aufarbeitung der DDR-Geschichte allgemein und einer damit verbundenen neuen historischen Lesart und Objektivierung der baulichen Werke der DDR im Kontext architektonischer (und städtebaulicher) Debatten, was zahlreiche zuletzt erschienene Bücher beweisen. [1] Zudem besitzt das Gebäude "Kultcharakter" und zählt nicht nur unter Architekturhistorikern, sondern auch unter Filmkritikern zu den beliebtesten Kinos Berlins. [2]

Insofern schließt das Buch ein Desiderat, da es exemplarisch anhand eines Baus die Geschichte der DDR kritisch und gleichzeitig objektiver darzustellen versucht. Dennoch wäre es verkürzt, den Band allein auf das Feld der historischen "Aufarbeitung" zu reduzieren: Vielmehr legt das Buch nicht nur Zeugnis von der herausragenden Architektur der Nachkriegsmoderne in der DDR ab, sondern reflektiert anhand des Gebäudes die Filmgeschichte des Landes. Wie kaum ein anderes Gebäude hat das "International" nicht nur Bau-, sondern auch Kinogeschichte geschrieben. So fanden berühmte Filme wie "Spur der Steine" (1966, Regie: Frank Beyer) oder "Coming Out" (1989, Regie: Heiner Carow) hier ihre Uraufführung.

Auch wenn Worbs mit seiner Monografie über das Kino "International" zur Differenzierung des Diskurses über die DDR-Architektur und seiner Objektivierung beigetragen hat, kann nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass der Band aus der Hand eines Praktikers stammt, da er zwar in seinen Analysen die in den Archiven aufgesuchten Dokumente heranzieht, jedoch die verschiedenen, vor allem in den letzten Jahren geführten Diskurse und Debatten über die Architektur der DDR, entweder nicht kennt oder sie weitestgehend ausblendet.

So geht er leider - trotz der Einbeziehung von Zeitzeugen, als auch der Filmgeschichte und wichtiger baupolitischer Ereignisse und Entscheidungen, die am Kino "International" ablesbar sind - nicht über einen historiografischen Diskurs hinaus. Zudem werden zum architekturästhetischen Vergleich ausschließlich der West-Berliner Zoo-Palast oder die Deutsche Oper herangezogen, und es wird nicht nach formalästhetischen Ähnlichkeiten in der Architektur der DDR gesucht, um dann entweder die Singularität dieses Solitärbaus herauszustellen oder aber ihn als Vorbild für andere Bauten der DDR-Nachkriegsmoderne zu würdigen. Auch kann man dem Autor nicht folgen, wenn er von Schwächen des Baus schreibt, wie etwa den zu groß dimensionierten Verkehrswegen oder dem hohen konstruktiven Aufwand für das Tragwerk des Foyers. Der Aufwand hätte - seiner Meinung nach - recht einfach mithilfe einer Stützenreihe gelöst werden können. Dann aber verkennt der Autor, dass das Besondere und Außergewöhnliche des Baus zum einen in seiner räumlichen Großzügigkeit, zum anderen in der architektonischen Gestaltung, vor allem aber der gewagten Auskragung des monolithischen Körpers - des Foyers - aus der Fassade begründet liegt. Dieses "freie Spiel" lässt den Bau fast skulptural erscheinen.

Im "International" fließen somit Film- und Architekturgeschichte der DDR kongenial ineinander. Indem nämlich mittels der riesigen Glasfront des auskragenden Foyers die kinematografische Wahrnehmung symbolhaft nach Außen verlagert wird, kann durch die Fensterfront nicht nur in das Innere des Gebäudes geschaut werden, sondern die gebaute Architektur selbst wird zum Film - zu einem Screen, zu einer Leinwand in der Stadt am damals modernsten Boulevard der DDR.


Anmerkungen:

[1] Zu nennen wären hier: Peter Müller: Symbolsuche. Die Ost-Berliner Zentrumsplanung zwischen Repräsentation und Agitation, Berlin 2005; Christoph Bernhardt / Thomas Flierl / Max Welch Guerra (Hgg.): Städtebau-Debatten in der DDR. Verborgene Reformdiskurse, Berlin 2012; Eva Engelberg-Dockal / Kerstin Vogel (Hgg.): Sonderfall Weimar? DDR-Architektur in der Klassikerstadt, Weimar 2013 (vgl. http://www.sehepunkte.de/2013/10/23610.html); Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR, Königstein im Taunus 2013 (vgl. http://www.sehepunkte.de/2015/10/forum/mehrfachbesprechung-elmar-kossel-hermann-henselmann-und-die-moderne-eine-studie-zur-modernerezeption-in-der-architektur-der-ddr-koenigstein-im-taunus-karl-robert-langewiesche-nachfolger-2013-204/); Juliane Richter: DDR-Architektur in der Leipziger Innenstadt, Weimar 2015 oder Toni Salomon: Bauen nach Stalin, Berlin 2016.

[2] In zahlreichen Filmrezensionen wird immer wieder auch auf das "International" als herausragenden Kino-Ort verwiesen.

Claudia Tittel