Rezension über:

Chiara Bertoglio: Reforming Music. Music and the Religious Reformations of the Sixteenth Century, Berlin: de Gruyter 2017, XXXV + 836 S., ISBN 978-3-11-051805-4, EUR 89,95
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Rezension von:
Andrea Hofmann
Theologische Fakultät, Humboldt Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Hofmann: Rezension von: Chiara Bertoglio: Reforming Music. Music and the Religious Reformations of the Sixteenth Century, Berlin: de Gruyter 2017, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 11 [15.11.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/11/30323.html


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Chiara Bertoglio: Reforming Music

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Zum Reformationsjubiläum 2017 rückten nicht nur Biographie und Theologie Martin Luthers in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses, sondern auch die sog. Kulturwirkungen der Reformation. [1] Hier war neben der Malerei die Musik ein wichtiges Medium, das zur Übermittlung und Verbreitung reformatorischer Ideen, zur Identitätsstiftung, aber auch zu konfessionsspezifischer Propaganda und Abgrenzung diente. Alte Überblickswerke zu diesem Thema behandelten oft nur die Rolle der Musik im Kontext einer einzigen Konfession und waren von der eigenen konfessionellen Orientierung ihres Autors geprägt. [2] Einen konfessions- und nationenübergreifenden Zugang wählt dagegen die 2017 erschienene Monographie Reforming Music der Pianistin, Musikwissenschaftlerin und Theologin Chiara Bertoglio. Die Autorin will ihre Darstellung nicht zu sehr an konfessionelle Differenzen anlehnen. Sie betrachtet die religiöse Situation des 16. Jahrhunderts vielmehr als vielschichtig, Konfessionsgrenzen als fluide. Gerade die Musik sieht sie als ein Bindeglied zwischen den sich im 16. Jahrhundert herausbildenden Denominationen an (XXV-XXXI; 685-689).

Auf fast 700 Seiten, in 12 Kapiteln, ergänzt durch ein Glossar, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Personen- und Sachregister, entwirft Bertoglio ein buntes Bild der musikalischen und religiösen Landschaft des 16. Jahrhunderts. Positiv ist zu bemerken, dass sie Musik dabei nicht kontextlos betrachtet, sondern in das kulturelle und geistige Leben des 16. Jahrhunderts einordnet. Zudem ist die Untersuchung europäisch ausgerichtet, so dass sie über die vor allem in Deutschland weit verbreiteten, auf den deutschsprachigen Raum beschränkten Perspektiven hinausgeht.

Während die ersten beiden Kapitel über historische bzw. theologische Eckdaten sowie Musik, Gesellschaft und Kultur in der Frühen Neuzeit allgemein informieren, widmet sich das dritte Kapitel der im 16. Jahrhundert geäußerten Kritik an Musik. Kapitel 4 erläutert die Musikkonzepte der Reformatoren. Ergänzend dazu behandeln die Kapitel 5 und 6 Fragen nach der musikalischen Praxis in den lutherischen und calvinistischen Kirchen. Kapitel 7 hat die Musik in der Church of England zum Thema, während sich die Kapitel 8 und 9 mit der Musik im Umfeld des Trienter Konzils befassen. Kapitel 10 und 11 thematisieren Musik und Konfessionalisierung und das zwölfte Kapitel schließlich die Frage nach dem Einfluss der Frauen auf das musikalische Leben des 16. Jahrhunderts. Gerade dieses Kapitel bietet gegenüber älteren Darstellungen einen Mehrwert, die diesen Aspekt komplett ausblendeten. Zugleich erscheint dieser Teil jedoch, wie die Autorin selbst feststellt (625), als Nachgang zum bisher Abgehandelten, in dem eine im Wesentlichen von Männern geprägte Musikgeschichte erzählt wurde, und scheint damit nicht so recht in die Struktur des Buches zu passen.

In allen Kapiteln entdeckt die Leserin neben allgemeinen Einführungen in die jeweiligen Themen und vielen bekannten Inhalten wie z.B. der Musikauffassung der Reformatoren, der Frage nach der polyphonen Kirchenmusik oder der konfessionsübergreifenden Bedeutung des Psalters kleine Einzelstudien, die zeigen, dass Bertoglio nicht nur die großen Linien im Blick hat, sondern zu Spezialthemen selbst Quellenforschungen betreibt. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion eines Briefes von Bernardino Cirillo, Erzbischof von Loreto, der oft als Angriff auf die polyphone Kirchenmusik verstanden wurde, von Bertoglio aber in seiner Vielschichtigkeit ausführlich besprochen und auf die Bedenken und Kritiken des Geistlichen hin analysiert wird (155-163).

Im Wechselspiel von mikroskopisch anmutenden Einzelbeobachtungen und dem Zeichnen der großen Linien liegt ein Faszinosum, zugleich aber auch eine problematische Seite des Buches. Die Gliederung führt gelegentlich zu inhaltlichen Redundanzen und wirkt in der Kleinteiligkeit ihrer Unterkapitel manchmal verwirrend. Dieser Eindruck wird durch die vielen Vor- und Rückverweise im Text auf vorangegangene oder noch folgende Kapitel verstärkt, die den Lesefluss des eigentlich sehr verständlich geschriebenen Buches erschweren.

Kritisch zu fragen ist, ob die Autorin ihrem eigenen Anspruch, konfessionelle Fokussierungen zu vermeiden, gerecht wird: Immerhin gliedert sie ihre Darstellung im Wesentlichen nach konfessionellen Gesichtspunkten (Luther - Calvin - Anglikanische Kirche - Katholizismus). Kleinere Ungereimtheiten fallen dabei auf: Warum werden z.B. die Musik der frühen Straßburger Reformation und die der böhmischen Brüder "Luther" zugeordnet, obwohl Bertoglio erkennt, dass die Musik zwar von Luther beeinflusst war, aber dennoch weder die Straßburger Reformation noch die böhmischen Brüder als "lutherisch" bezeichnet werden können (vgl. 290; 295)? An dieser Stelle hätte die Fluidität und Ambiguität von Glaubensgemeinschaften im 16. Jahrhundert anhand der Rolle der Musik noch deutlicher gemacht werden können.

Hilfreich wäre es generell, zu definieren, was Konfession bzw. Konfessionalisierung bedeutet und ab wann man überhaupt vom Luthertum oder dem Calvinismus sprechen kann. Eine präzise Definition dieser Begriffe würde das Buch noch anschlussfähiger an (kirchen)historische Forschungen zur Konfessionalisierung machen. [3]

Es stellt sich außerdem die Frage, welches Ziel die Autorin mit ihrem Buch verfolgt: Als Nachschlagewerk zu Einzelaspekten erscheint die Monographie wegen der vielen Vor- und Rückverweise nicht geeignet; um sich einen groben Überblick zu verschaffen, ist sie zu ausführlich.

All diese kritischen Anmerkungen sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Band insgesamt eine gut lesbare und unterhaltsame Darstellung liefert. Die Autorin hat beachtlich viel Material zusammengetragen und schafft es dadurch, die Vielfalt des Themengebiets aufzuzeigen und zu weiteren Forschungen zu kulturellen Wirkungen der Reformation, wie z.B. der Musik, zu ermuntern.


Anmerkungen:

[1] Vgl. den internationalen und interdisziplinären Kongress "Kulturelle Wirkungen der Reformation", der vom 7. bis 11. August 2017 an der Leucorea in Wittenberg stattfand. leucorea.de (Zugriff 05.10.2017).

[2] Vgl. z.B. Friedrich Blume (Hg.): Geschichte der Evangelischen Kirchenmusik, Kassel 1964; Karl Gustav Fellerer (Hg.): Geschichte der katholischen Kirchenmusik. Von den Anfängen bis zum Tridentinum, Kassel u.a. 1972; Karl Gustav Fellerer (Hg.): Vom Tridentinum bis zur Gegenwart, Kassel u.a. 1976.

[3] Interessant wäre die Einordnung der Bedeutung von Musik in Forschungen zur Konfessionalisierungsthese bzw. zu den Konfessionskulturen, z.B. Heinz Schilling: Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, hgg. von Luise Schorn-Schütte / Olaf Mörke, Berlin 2002; Kaspar von Greyerz u.a. (Hgg.): Interkonfessionalität - Transkonfessionalität - binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Heidelberg 2003; Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006.

Andrea Hofmann