Rezension über:

Thomas Lewy: Zwischen allen Bühnen. Die Jeckes und das hebräische Theater 1933-1948 (= Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne; Bd. 10), Berlin: Neofelis Verlag 2016, 351 S., ISBN 978-3-95808-019-5, EUR 26,00
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Rezension von:
Stefan Hofmann
Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig / Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Hofmann: Rezension von: Thomas Lewy: Zwischen allen Bühnen. Die Jeckes und das hebräische Theater 1933-1948, Berlin: Neofelis Verlag 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 12 [15.12.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/12/29743.html


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Thomas Lewy: Zwischen allen Bühnen

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Im Jahr 1941 beschäftigte sich einer der Sketche im Programm des satirischen hebräischen Theaters ha-Matate im britischen Mandatsgebiet Palästina mit jüdischen Einwanderern aus deutschsprachigen Ländern, für die sich dort gerade die zunächst pejorativ verwendete Bezeichnung Jeckes eingebürgert hatte: Vor einer Chorprobe prüft ein Dirigent die Anwesenheit aller Mitglieder und fragt dabei "Walter, der Würstchenverkäufer?" Dieser antwortet zunächst, dass er nicht da sei und erklärt auf Nachfrage: "Verzeihung, ich bin nicht Walter, der Würstchenverkäufer - ich bin Dr. der Philosophie." Was zunächst als satirische Übertreibung erscheint, war der Lebensrealität deutschsprachiger Juden in Palästina überraschend nahe: Die Figur des Walter hatte sein Vorbild im Wiener Opernsänger Fritz Gerstmann, der in dieser Zeit als Würstchenverkäufer auf dem Mugrabi-Platz in Tel Aviv arbeitete (168). So bizarr Gerstmanns Lebensweg zunächst erscheinen mag - er war dennoch nicht ungewöhnlich für jüdische Theaterkünstlerinnen und -künstler, die vor dem Nationalsozialismus nach Palästina geflohen waren.

Zwischen allen Bühnen widmet sich sowohl den Lebenswegen und der künstlerischen Arbeit von deutschsprachigen Theaterschaffenden, als auch der Darstellung von Jeckes in Theatern der jüdischen Ansiedlung in Palästina (Jischuw) zwischen 1933 und 1948. In der grundlegenden Studie zeigt Thomas Lewy, emeritierter Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Tel Aviv, der ebenso als Regisseur, Dramaturg und Theaterleiter gearbeitet hat, nicht nur, wie es zu Biographien wie der Gerstmanns kommen konnte. Das Thema des Buchs geht weit darüber hinaus. In der Geschichte der deutschsprachigen Theaterkünstler sind Perspektiven auf die Rolle des Hebräischen und des Deutschen, von Theaterkulturen und Schauspielstilen aufbewahrt, die eng mit dem Selbstverständnis der jüdischen Bevölkerung Palästinas und dem Entstehen der israelischen Kultur verbunden sind. Insofern ist das Buch, das gleichzeitig im hebräischen Original erschienen ist [1], sowohl als Beitrag zur Geschichte der Jeckes, des hebräischen Theaters, wie auch des Jischuw und Israels insgesamt zu verstehen.

Als einen zentralen Grund für die Schwierigkeiten deutschsprachiger Künstler im Jischuw identifiziert Lewy die Theatertradition, die in Palästina bestimmend war. In den beiden maßgeblichen Theatern des Jischuw - dem 1918 in Moskau gegründeten Theater Habima, das sich ab 1931 dauerhaft in Palästina niedergelassen hatte, sowie dem 1925 in Tel Aviv gegründeten Ohel-Theater - herrschte ein in Russland entwickelter, fantastisch-expressiver Stil vor. Die Arbeit der Schauspieler an ihren Rollen orientierte sich an dem Konzept der psychologischen Identifikation Konstantin Stanislawskis, während der Regisseur eine eher begleitende Funktion einnahm. Im Gegensatz dazu waren die mitteleuropäischen Künstler von einer Theatertradition geprägt, in der der Regisseur bereits vor Probenbeginn eine genaue Vorstellung von der Inszenierung hatte. Die Schauspieler orientierten sich zumeist an der Methode Max Reinhardts, und ihr Spiel war von dem realistischen Stil der Neuen Sachlichkeit geprägt.

An diesen Befund anknüpfend zeigt Lewy die Schwierigkeiten auf, denen Theaterschaffende in Palästina begegneten, die angesichts des Nationalsozialismus aus deutschsprachigen Gebieten geflohen waren. Neben der Sprachbarriere waren es demnach vor allem die Unterschiede in der Theaterpraxis, die dazu führten, dass Schauspieler aus dem deutschsprachigen Raum kaum Anstellungen an etablierten hebräischen Theatern finden konnten. Die von den Neuankömmlingen mitgebrachte realistische Schauspieltradition wurde von den mehrheitlich aus dem östlichen Europa stammenden Bewohnern des Jischuw mit ihrem sozialistisch-zionistischem Selbstverständnis abgelehnt. Zudem waren Habima und Ohel als Kollektive organisiert. Ihre Mitglieder waren darum bemüht, die eigene Stellung zu erhalten und keine Neuen zuzulassen. Auch nur wenige deutschsprachige Regisseure fanden eine dauerhafte Tätigkeit bei den etablierten Theatern. Stücke deutschsprachiger jüdischer Autoren kamen eher selten zur Aufführung, und die Herausforderungen der Neueinwanderer wurden kaum auf der Bühne thematisiert.

Das satirische Theater ha-Matate war deutschsprachigen Künstlern gegenüber offener als die beiden etablierten Kunsttheater. Mit Martin Rost und Sammy Gronemann steuerten ab 1937 auch zwei Jeckes Texte zu dem Programm des Theaters bei. Gleichzeitig veränderte sich die Darstellung von deutschsprachigen Einwanderern in ha-Matate: Wurden sie Anfang der 1930er Jahre noch wegen der ihnen nachgesagten Ordnungsliebe, Neigung zu Bürokratie und mangelnden Hebräischkenntnissen karikiert, setzte sich gegen Ende der 1930er eine empathischere Figurenzeichnung durch. Jeckes wurden nun als naive, liebenswürdige Figuren gezeigt, durch die der Umgang mit Neuankömmlingen im Jischuw thematisiert wurde. Schauspielerinnen und Schauspieler mitteleuropäischer Herkunft fanden jedoch meist keine Aufnahme in das Ensemble.

Die Gründung von 18 Privattheatern während der 1930er und 1940er Jahre beschreibt Lewy folglich vor allem als Reaktion auf die Abgeschlossenheit der etablierten Ensembles. Die Mehrzahl dieser Privattheater ging auf die Initiative von Jeckes zurück, doch konnten sie sich zumeist nicht lange halten. Während das eingesessene Publikum die expressive Theatertradition der etablierten Bühnen gewöhnt war und die neuen Privattheater mied, verstanden Neuankömmlinge oft noch nicht genügend Hebräisch, um den Aufführungen folgen zu können. Daher hofften mitteleuropäische Theaterkünstler schließlich, mittels deutschsprachigen Theaterabenden ihr Publikum zu erreichen. Doch stießen sie damit auf harschen Protest. Im Jischuw waren schon länger viele Bemühungen darauf gerichtet gewesen, Hebräisch als alleinige Sprache der jüdischen Ansiedlung durchzusetzen. Deutsch wurde darüber hinaus durch die antisemitischen Taten der Nationalsozialisten zunehmend als Sprache des Feindes wahrgenommen. Dementsprechend konnten deutschsprachige Veranstaltungen ab 1936 nur noch als geschlossene Lesungen stattfinden und erregten selbst dann oftmals Protest.

In seinem Schlusskapitel arbeitet Lewy überzeugend heraus, dass eine Integration der mitteleuropäischen Theatertradition in den Jischuw erst in dem 1945 mehrheitlich durch Jeckes gegründeten Kameri-Theater stattfand. In der Inszenierung von Moshe Shamirs Hu halakh ba-sadot (Er ging durch die Felder) von 1948 wurde ein Stück, das das Leben und die Traumata im gerade gegründeten Staat Israel thematisierte, mit einer realistischen Schauspielkunst gezeigt. Erstmals sprachen Bühnenfiguren ein alltägliches Hebräisch und nicht das stilisierte Literaturhebräisch, das bisher bei Habima und Ohel verwendet wurde. Mit dieser Inszenierung avancierte das Kameri zum führenden Theater des neugegründeten Staates. Dennoch verließen in den folgenden Jahren zahlreiche mitteleuropäische Künstler Israel wieder. Nicht wenige kehrten in einen der beiden deutschen Staaten oder nach Österreich zurück, um in der Sprache zu arbeiten, in der sie sich am besten ausdrücken konnten.

Lewy hat mit Zwischen allen Bühnen ein detailreiches Grundlagenwerk vorgelegt, das auf umfangreichen Quellenrecherchen basiert. Er stützt sich auf Theaterprogramme, Stücktexte, Protokolle von Sitzungen der Theaterleitungen und vor allem auf Theaterkritiken. Sämtliche Theater des Untersuchungszeitraums werden behandelt und die Lebenswege von wahrscheinlich allen mitteleuropäischen Theaterkünstlern im Jischuw erwähnt. Diese enorme Rechercheleistung hat allerdings zur Folge, dass der Autor stellenweise zu sehr hinter dem Quellenmaterial verschwindet. Ebenso hätte dem Buch an einigen Stellen eine breitere kulturhistorische Kontextualisierung gutgetan. Durch die strenge Gliederung nach den jeweiligen Theatern treten Veränderungen während des Untersuchungszeitraums manchmal in den Hintergrund. So drängt sich etwa die Frage auf, inwiefern sich die katastrophischen Ereignisse in Europa auf die Wahrnehmung der Jeckes im Jischuw niederschlugen und wie diese gerade in Bezug zur deutschen Sprache und Kulturtradition damit umgingen. Derartige Einwände schmälern jedoch nicht die Leistung des Autors. Zwischen allen Bühnen wird aufgrund seiner umfassenden Quellenrecherchen zur Grundlage weiterer Forschungen im Bereich der Theater- und Kulturgeschichte des Jischuw, Israels und der deutschsprachigen Gebiete werden, aus denen die Protagonisten des Buchs fliehen mussten.


Anmerkung:

[1] Ha-yekim weha-teatron ha-ivri. Be-ma'avak bein ma'arav le-mizraḥ Eropa [Die Jeckes und das hebräische Theater. Im Kampf zwischen West- und Osteuropa], Tel Aviv 2016.

Stefan Hofmann