Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Sabine Freitag, Bamberg


Gareth Stedman Jones, Karl Marx. Die Biographie, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2017 (engl. Original: Karl Marx. Greatness and Illusion, London 2016)
Wer je über Industrialisierung, Arbeiterbewegung, Klassenbildung oder Kriminalität im viktorianischen England geforscht hat, dem ist der Name Gareth Stedman Jones durch seine 1971 erschienene Studie Outcast London. A Study in the Relationship Between Classes in Victorian Society bestens vertraut. Die neue Marx-Biographie bringt nun in Fülle zusammen, was Gareth Stedman Jones als Autor seit Jahrzehnten auszeichnet: profunde Kenntnisse der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse Großbritanniens im 19. Jahrhundert, große Kennerschaft des Western Marxism und eine methodisch einfache Idee: Marx' Leben und intellektuelle Entwicklung im konkreten historischen Kontext seiner Zeit zu verorten. Heraus kommt ein Mann, der sicherlich kein Marxist, wohl aber einer war, der auf die Verelendungserscheinungen seiner Zeit eine Antwort suchte.

Lily King, Euphoria, München 2015 (am. Original 2014)
Wer etwas darüber erfahren möchte, wie sich die Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin entwickelt und profiliert hat, welche Auseinandersetzungen über Deutungshoheit, methodische Ausrichtung und Erkenntnisgewinn in ihrer Frühphase geführt wurden, kann eine entsprechende Wissenschaftsgeschichte aufschlagen oder zu Euphoria greifen. Der Protagonistin des Romans, die historisch an die beiden Kulturanthropologinnen Margret Mead (Schülerin von Franz Boas) und Ruth Benedict angelehnt ist, bleiben selbst im fernen Papua Neuguinea die Niederungen des Wissenschaftsbetriebs nicht erspart: Konkurrenzkampf, Publikationsdruck, Originalitätszwang, Finanzierungsprobleme, öffentliche Anfeindungen und Kritik. Die Protagonistin überlebt das nicht, ihr Werk schon.

Pat Barker, Regeneration (1991), dt. Übers. Niemandsland (1997)
Vor 100 Jahren, 1917, trafen sich im schottischen Militärhospital Craiglockgart, das für traumatisierte britische Offiziere im Ersten Weltkrieg eingerichtet worden war, der Armeepsychologe William H.R. Rivers und der Dichter und Kriegserzähler Siegfried Sassoon. Diese historisch verbürgte Begegnung – Rivers gehörte zu einer einflussreichen Medizinergruppe, die shell shock zum ersten Mal psychologisch zu erklären versuchte, und Sassoon wurde im Krieg durch seine kriegskritischen Publikationen als Schriftsteller noch berühmter – nimmt Pat Barkers Roman zum Ausgangspunkt, um über das zu reflektieren, was wissenschaftliche historische Untersuchungen über den Ersten Weltkrieg selten erfassen können: die inneren Verwüstungen, die der Krieg hinterlässt, und das Infragestellen aller bislang akzeptieren Verhältnisse.

J.M. Coetzee, Disgrace (1999), dt. Übers. Schande (2000)
Nelson Mandelas später Sieg und die Veränderungen, die sich in Südafrika seit seiner Freilassung 1990 vollzogen haben, haben das Apartheitsystem in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund treten lassen. Coetzees Roman lässt die Erfahrung der Apartheit bedrückend authentisch in Form eines Ensemblestücks mit wenigen Figuren wieder aufleben, indem er in einer lakonischen, verdichteten Sprache das alltägliche Dilemma derjenigen beschreibt, die versuchen müssen, in diesem System nicht nur ihren Platz zu behaupten, sondern ihr Leben an diesem unwirtlichen Ort dauerhaft einzurichten.

Amos Oz, Judas, Frankfurt am Main 2015
Das geteilte Jerusalem in den 1950er Jahren und das heutige Israel bilden den Hintergrund zweier Geschichten, in denen der Vorwurf des Verrats zur gemeinsamen Klammer wird. Im Mittelpunkt stehen ein Zionist, der die Rechtmäßigkeit der israelischen Staatsgründung 1948 anzweifelt und sich öffentlich zur Zweitstaatenlösung bekennt, und ein Student, der während seines Forschungsvorhabens zu "Jesus in der Perspektive der Juden" immer stärker von der komplexen und widersprüchlichen Figur des Judas Ischariot angezogen wird. Am Ende sind in beiden Fällen die Zuschreibungen des Verrats nicht mehr haltbar und die Fragen nach der Notwendigkeit von Gründungsmythen für Institutionen wie Kirche und Staat wieder offen.