Rezension über:

Ingo Cornils: Writing the Revolution. The Construction of "1968" in Germany (= Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), Woodbridge: Camden House 2016, XII + 315 S., eine s/w-Abb., ISBN 978-1-57113-954-2, GBP 75,00
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Rezension von:
Silja Behre
Minerva Institute for German History, Tel Aviv University
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Empfohlene Zitierweise:
Silja Behre: Rezension von: Ingo Cornils: Writing the Revolution. The Construction of "1968" in Germany, Woodbridge: Camden House 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/31288.html


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Ingo Cornils: Writing the Revolution

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Das geschriebene Wort dient als Waffe im Deutungskampf um die 68er-Bewegung: Fernsehen und Internet zum Trotz, die Schlachten werden immer noch "am Schreibtisch" ausgetragen (8), so die These von Ingo Cornils, Senior Lecturer für Deutsche Sprache an der University of Leeds. Sein Buch widmet sich der Frage, wer wann und wie publizistisch auf das deutsche "1968" zurückgeblickt hat. Bereits 2016 veröffentlicht, leistet Cornils mit seiner Studie einen wichtigen und lesenswerten Beitrag zur Erinnerungsgeschichte der Protestbewegung, der sich zum diesjährigen 50. Jubiläum gleich mehrere Publikationen aus unterschiedlichen Perspektiven widmen. [1]

Um zu verstehen, wie "1968" in der deutschen öffentlichen Wahrnehmung geformt wurde, geht der Autor mit einer "thick discription" (11) vom Konstruktionscharakter von Erinnerungsprozessen aus. Er argumentiert Jan Assmann folgend, dass rund ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen ein Übergangsmoment vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis erreicht sei. Dabei habe die Erinnerung an "1968" keiner institutionalisierten Deutungsorganisation, etwa durch historische Kommissionen, unterlegen. Vielmehr sei sie das "unfinished business" (13) einer Generation - eine Perspektive, die in den methodischen Überlegungen nicht näher ausgeführt wird. Dennoch prägt das Verständnis der Proteste als generationsstiftendes Ereignis Aufbau und den Inhalt der Studie.

Ausgewählte Akteure stehen im Zentrum der insgesamt zehn Kapitel. Neben dem "Jedermann" Benno Ohnesorg und dem "Idealisten" Rudi Dutschke zählt er auch "die ewigen Aktivisten" Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit und - als einzige Frau - die "tragische Heldin" Ulrike Meinhof zu den stilisierten "Heroes and Martyrs" (16). Dabei ist dem Autor die Willkür seiner Auswahl durchaus bewusst. Warum er sich gerade für diese fünf Personen entschieden hat, bleibt jedoch offen. Prominente Rollen in den Deutungskämpfen besetzen außerdem jene, die er als "Chroniclers and Interpreters" (38) der 68er-Bewegung begreift: Wissenschaftler, ehemalige Akteure und Journalisten. Während er ihren als "Balanceakt" (72) beschriebenen Positionierungen in einem zweiten Kapitel nachgeht, widmet sich das dritte Kapitel den "Critics and Renegades" (73), die durch ihr Anschreiben gegen "1968" paradoxerweise die Debatte über das Erbe der Proteste lebendig gehalten hätten (93). Die kritische Auseinandersetzung mit der 68er-Bewegung zeichnet er am Beispiel der "Political Opponents" (75) wie Gerd Langguth, der sich schon früh wissenschaftlich mit den Protesten beschäftigte, ebenso nach wie anhand von Abgrenzungsstrategien durch nachfolgende Generationen, etwa in Sophie Dannenbergs Roman Das bleiche Herz der Revolution. In der Einbindung der literarischen Auseinandersetzungen mit "1968", die als "emotional memory" (94) zu den kollektiven Repräsentationen der Proteste beitragen, liegt eine der Stärken der Studie. Bisher habe sie die Fachwissenschaft ignoriert, doch bewahrten gerade sie, so Cornils, was von Journalisten und Politikern beständig annulliert wird: das subversive und utopische Moment.

Anknüpfend an kritische Stimmen, die in der Erinnerungskonstruktion vor allem männliche Akteure am Werk sehen, stellt er mit den "Women of the Revolution" (140) im fünften Kapitel eine Auswahl der von Frauen vorgelegten historischen, autobiographischen und literarischen Interpretationen vor. In ihrer als weniger nostalgisch beschriebenen Lesart der Ereignisse sieht er die begrüßenswerte Möglichkeit einer Herausforderung bestehender Deutungen, "but there is more work to do" (149).

Mit den beiden folgenden Kapiteln verlässt Cornils für einen Moment die Ebene der Deutungsakteure, um die mediale und künstlerische Rekonstruktion von "1968" zu diskutieren. Die andauernde mediale Präsenz von "1968" sieht er in einer vorteilhaften Wechselbeziehung begründet: Das Thema bleibe für die Medien eine "goldene Eier legende Gans" (153). Journalistisches Wirken wiederum stelle für manchen ehemaligen Akteur ein lukratives Betätigungsfeld dar. Unter "1968 and the Arts" listet der Autor schließlich die Darstellungen der Proteste in Museen, auf Bühne, Bildschirm und Leinwand sowie im Bereich der populären Musik und Fotografie auf. Dabei unterscheidet seine Aufzählung nicht konsequent zwischen retrospektiver künstlerischer Auseinandersetzung mit den Ereignissen und reaktiven Entwicklungen auf die Proteste wie dem Grips-Theater oder Verlagsneugründungen.

Das achte Kapitel widmet sich wieder den Akteuren, diesmal jenen, die sich als "Zaungäste" (187) an den Deutungskämpfen beteiligen, als knapp zu spät Gekommene, als Teil der Kinder- und Nachfolgegenerationen, aber auch aus der Perspektive der ehemaligen DDR.

An diese Seitenperspektive, die zugleich seine eigene ist, schließt Cornils noch einmal eine ausführlichere Vorstellung der zwischen 2008 und 2014 erschienenen literarischen Rückblicke der "tale spinners" (197) Peter Schneider, Erasmus Schöfer, Jochen Schimmang, Uwe Timm, Friedrich Christian Delius, Bernd Cailloux und Hans Magnus Enzensberger an. [2] Böse Zungen würden von Altherrenliteratur sprechen, doch in deren Sentimentalität angesichts früherer jugendlicher Hoffnungen sowie der eigenen Vergänglichkeit erkennt Cornils einen romantischen Zug - ein charakteristisches Rahmenelement für die deutsche Erinnerungskonstruktion an "1968". Mit der Verortung von "1968" zwischen "romantischem Rückfall" und "Gründungsmythos" (Kapitel 10) beschreibt er das kommemorative Terrain als sowohl vergangenheits- als auch zukunftsgerichtet, aber vor allem als in einer deutschen Tradition stehend. Die Unbedingtheit der Protestakteure in ihrem Sinn für "duty", ihrer "unconditional solidarity" und ihrem "sense of a collective mission" führt er bis zum Nibelungenlied zurück (215). Er kommt mithin auf seine anfängliche These zurück, dass die westdeutsche Protestbewegung in ihrer Zusammensetzung und ihren Nachleben sich von den anderen 68er-Bewegungen aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit durch komplexere Themen ausgezeichnet habe. Sie stelle deshalb eine größere ideologische Herausforderung dar.

Das deutsche "1968" und seine Erinnerungskonstruktion auf dem Sonderweg? Einspruch! Die zentralen Akteure der deutschen 68er-Bewegung verstanden sich als Teil einer globalen Protestbewegung. Zudem relativiert eine transnationale Perspektive auf die Erinnerungsprozesse die Sonderwegs-These und zeigt, wie sehr nationale Themensetzungen auch Strategien im Deutungskampf sind.

Am Ende schließt der Autor an die Ergebnisse anderer Studien an. [3] Eine "kleine kulturelle Elite" habe in voneinander getrennten Deutungsgemeinschaften ("segregated communities", 223) eine kaum noch zu variierende Meistererzählung etabliert. Deren Genese hat Cornils, auf Grundlage historischer, dokumentarischer, literarischer Quellen ausführlich und systematisch dargelegt. Er hat mit seinem Buch Inventur gemacht und beschrieben, wer wann und auf welche Weise über "1968" geschrieben und wer es wie gedeutet hat. Indes, eine der leitenden Fragen, nämlich, warum einige wenige dominierende Sprecherfiguren den Diskurs einer Generation beherrschen, bleibt offen. Das liegt zum einen am Materialumfang, der das Buch im positiven Sinne zu einer Fundgrube und einer Art Kompendium macht. An dieser Breite leidet zum anderen aber die analytische Schärfe. Eine Rekonstruktion der Erinnerungsdiskurse erfordert eine systematische Dekonstruktion bestehender Deutungen, ein Hinterfragen der Deutungssprache selbst, wenn man so will: ein Re-Writing. Hier ist die Studie nicht konsequent. Darin liegt ihre erinnerungsanalytische Crux. Formeln der Deutungskämpfe werden fortgeschrieben (z.B. "march through the institutions") und die dominierende Erzählung vom glücklichen politischen Scheitern wird nicht hinterfragt, sondern übernommen. Diesen methodischen Einwänden zum Trotz: Mit Writing the Revolution ist Ingo Cornils eine informative Überblicksdarstellung des deutschen Erinnerungsdiskurses über "1968" und die Folgen gelungen, die dem interessierten internationalen Lesepublikum eine erste Orientierung bietet, deren Lektüre aber auch für Kenner der Thematik ein Gewinn ist.


Anmerkungen:

[1] Martin Stallmann: Die Erfindung von "1968". Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977-1998, Göttingen 2017; Silja Behre: Bewegte Erinnerung. Deutungskämpfe um "1968" in deutsch-französischer Perspektive, Tübingen 2016.

[2] Seiner Selbstobjektivierung, die er von anderen in Bezug auf "1968" ebenfalls einfordert, kommt der 1958 geborene Cornils an anderer Stelle nach. Vgl. hierzu: https://icornils.wordpress.com/2016/09/05/writing-the-revolution/, letzter Zugriff: 24. Juni 2016.

[3] Für den französischen Fall vgl. beispielsweise: Kristin Ross: May 68 and its afterlives, Chicago 2002.

Silja Behre