Rezension über:

Winfried Süß / Malte Thießen (Hgg.): Städte im Nationalsozialismus. Urbane Räume und soziale Ordnungen (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus; Bd. 33), Göttingen: Wallstein 2017, 271 S., eine Tabl., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3096-2, EUR 20,00
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Rezension von:
Eva Karl
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Annemone Christians im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Eva Karl: Rezension von: Winfried Süß / Malte Thießen (Hgg.): Städte im Nationalsozialismus. Urbane Räume und soziale Ordnungen, Göttingen: Wallstein 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/31719.html


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Winfried Süß / Malte Thießen (Hgg.): Städte im Nationalsozialismus

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Während Städte für die Erforschung des Nationalsozialismus lange Zeit als wenig gewinnbringende Untersuchungsobjekte galten - insbesondere Horst Matzerath hatte sie zu unbedeutenden Exekutivgewalten abgewertet [1] - wendet sich die jüngere Forschung verstärkt urbanen Handlungsräumen zu. Vor allem Stadtverwaltungen werden als eigenständige Akteure im nationalsozialistischen Herrschaftssystem erkannt und als Bindeglied zwischen Partei und Bevölkerung mit eigenen Handlungsspielräumen bei der Verteilung von Lebenschancen in den Blick genommen. [2]

Auch der "cultural turn" in den Geistes- und Sozialwissenschaften trug zur Wiederentdeckung des Lokalen bei. Mit dem "spatial turn", der Räume nicht mehr als bloße "Container", sondern als soziale Produkte begreift, wurde der Raum zu einer zentralen Dimension geschichtswissenschaftlicher Forschung.

In dieses Forschungsfeld ist der Sammelband von Winfried Süß und Malte Thießen einzuordnen, der Städte als dynamische Handlungsräume begreift und das Verhältnis von urbanen Räumen und sozialen Ordnungen in den Blick nimmt. Im Zentrum der 33. "Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus" steht die "Herstellung von Stadträumen durch soziale Praktiken, Kommunikation und Repräsentation" (13). Dabei wird nach der räumlichen Umsetzung nationalsozialistischer Gesellschaftsentwürfe gefragt sowie danach, wie der städtische Raum nationalsozialistische Ordnungsvorstellungen formte.

Die neun Einzelbeiträge wenden sich unterschiedlichen Akteuren, Raumtypen und Bereichen der Kommunalpolitik zu: So werden neben Architekten und Raumplanern die örtliche Verwaltung sowie die Stadtbevölkerung - und dabei sowohl "Volksgenossen" als auch "Gemeinschaftsfremde" - als Akteure untersucht. Außerdem behandelt der Band kommunalpolitische Fragen, die über die klassischen Themenfelder raumbezogener Studien hinausgehen. Besonders innovativ sind die Beiträge, die innerhalb von Städten konstruierte Räume ausmachen und dabei deren relationalen Charakter in ihre Konzeption miteinbeziehen. Hier kommt die methodische Prämisse des Bandes ertragreich zum Einsatz, zwischen konkret benennbaren Orten, welche "durch Repräsentation und Zuordnungen von Akteuren bestimmt werden" und Räumen, die "auf soziale Relationen und Anordnungen" (16) verweisen, zu unterscheiden.

Wie der Raum durch soziale Praxis konstruiert wurde und auf Akteure zurückwirkte, verdeutlicht Thomas Schaarschmidt in seinem Beitrag zum Verhältnis der NS-Führung zur Millionenmetropole Berlin. Er demonstriert, wie das von der Partei gepflegte Berlin-Narrativ zunächst von völkischer Großstadtkritik bestimmt war und nach der Machtübernahme mit einem "pseudo-religiösen 'Auferstehungs'-Mythos" (45) überschrieben wurde. Dadurch formte das Berlin-Image nicht nur den städtischen Raum und wirkte auf dessen Bewohner ein, sondern veränderte auch die Raumvorstellung der Partei-Elite.

Die räumliche Umsetzung nationalsozialistischer Ordnungsvorstellung zeigt sich ebenfalls gut an der "Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben" als nationalsozialistischer Musterstadt. Marcel Glaser und Manfred Grieger beschreiben die NS-Raum- und Stadtplanung als Mittel eines "Social Engeneering" und beleuchten, wie der Anspruch eines Musterraums der "Volksgemeinschaft" an der Realität der Aufrüstungs- und Kriegsgesellschaft scheiterte. Auch für den Hamburger Nahverkehr kann Christoph Strupp Grenzen bei der Umsetzung nationalsozialistischer Gestaltungswünsche infolge wirtschaftlicher Notwendigkeiten festmachen. Er stellt heraus, wie die städtische Infrastruktur an Fragen von Macht und Herrschaft geknüpft war, indem soziale Hierarchien mittels Verkehrsnetzen in den städtischen Raum eingeschrieben wurden und damit Inklusions- und Exklusionsprozesse beeinflussten. In beiden Beiträgen, wie auch in den Ausführungen von Philipp Erdmann und Annika Hartmann zur Stadtplanung und dem öffentlichen Wohnungsbau in Münster wird eine Eigenlogik von Städten nachgewiesen, die auf Stadtplaner, Kommunalbeamte und die Partei-Elite einwirkte.

Wie ertragreich die Unterscheidung von Ort und Raum sein kann, führt Nadine Recktenwald aus. Sie legt dar, wie in städtischen Asylen Räume der Obdachlosen geschaffen wurden, indem die Kommunen beispielsweise durch Hausordnungen nationalsozialistische Ordnungsvorstellungen umsetzten. Dabei wird deutlich, wie die ambivalente Bewertung von Obdachlosigkeit im Nationalsozialismus zu einer räumlichen Umcodierung des Asyls führte: Asyle wurden zunächst als zentralisierte Zufluchtsorte für Notleidende eingerichtet, dann aber immer stärker isoliert und schließlich aus dem öffentlichen Raum verdrängt.

Durch ein weites Raumverständnis sticht der Beitrag von Paul-Moritz Rabe heraus, der eindrucksvoll aufzeigt, wie städtische Behörden in der "Hauptstadt der Bewegung" durch die Handhabung von Geldmitteln "Wunschräume", "Verfolgungsräume" und "Klüngelräume" ausformten. Rabe weist nach, wie diese Herrschaftsräume sowohl auf die NS-Führung, die Stadtverwaltung, als auch die Bevölkerung rückwirkten und sich "Verfolgungsräume" zum Teil im städtischen Leihamt und im Stadtsteueramt konkret verorten ließen.

Gleichfalls innovativ gelingt es Arvi Sepp und Annelies Augustinus durch das Aufspüren von jüdischen Heterotopien innerhalb des städtischen Raums, Wahrnehmungen, Deutungen und Erfahrungen von oft in den Quellen schweigenden Opfern sichtbar zu machen. Anhand der Darstellung städtischer Räume in den Tagebüchern von Willy Cohn und Walter Tausk zeigen die Autoren, wie die NS-Raumpolitik in Breslau subjektiv angeeignet und mit eigenen Gegenentwürfen ersetzt wurde.

Ulrike Jureit setzt sich mit kollektiver Gewalt im kleinstädtischen Raum auseinander und arbeitet an einer Fallstudie im mittelfränkischen Gunzenhausen Pogromgewalt als kommunikative Handlung heraus. Durch die Verknüpfung der Analyse von kollektivem Gewaltwissen und räumlichen Logiken gelingt es ihr, das Konzept des Gewaltraumes kritisch weiterzudenken und zu demonstrieren, wie Gewalt und Raum als Forschungskategorien miteinander in Bezug zu setzen sind. Auch das Fundstück von Stefan Hördler und Yves Müller, eine Fotoserie zum NS-Totenkult in Köpenick, unterstreicht die Bedeutung kleinräumiger Strukturen bei Gewalteskalationen und der Schaffung eines "Machtraumes". Durch eine Verknüpfung von Raum- und Bildanalyse können die Autoren die symbolische Einnahme des öffentlichen Raumes nachvollziehen.

Durch die Auswahl der Beiträge können die Herausgeber zeigen, dass für die Herausforderung, soziale Praktiken in der nationalsozialistischen Lebenswelt zu erschließen, die Annahme einer räumlichen Ordnung des Sozialen enormen Mehrwert mit sich bringt. Mithilfe eines dynamischen Raumverständnisses schlüsseln sie auf, wie im Nationalsozialismus Macht demonstriert, Hierarchien verfestigt und Verfolgungsmaßnahmen auf kommunaler Ebene umgesetzt wurden. Leider verzichten die Herausgeber in der Einführung auf eine intensive Auseinandersetzung mit den spezifischen Problemen raumbezogener Stadtgeschichten und insbesondere solchen im Nationalsozialismus, was den forschungspraktischen Nutzen des Bandes noch gesteigert hätte.

Insgesamt wird der Sammelband seinem Anspruch gerecht, durch verschiedene Forschungsschwerpunkte und -perspektiven die Stadtgeschichtsforschung zu erweitern und Impulse für neue Forschungen zu geben. Durch die Vielseitigkeit der einzelnen Beiträge wird eine Bandbreite von Möglichkeiten aufgezeigt, wie durch die Erkundung von räumlichen Dimensionen kulturwissenschaftliche Stadtgeschichten im Nationalsozialismus gelingen können.


Anmerkungen:

[1] Horst Matzerath: Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970.

[2] Siehe u.a.: Sabine Mecking / Andreas Wirsching (Hgg.): Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft (= Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 53), Paderborn 2005; Bernhard Gotto: Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933-1945 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 71), München 2006.

Eva Karl