Rezension über:

Jutta Rübke: Berufsverbote in Niedersachsen 1972-1990. Eine Dokumentation, Braunschweig: oeding print 2018, 210 S., Gratiserwerb bei der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung

Rezension von:
Jana Stoklasa
Leibniz Universität Hannover
Empfohlene Zitierweise:
Jana Stoklasa: Rezension von: Jutta Rübke: Berufsverbote in Niedersachsen 1972-1990. Eine Dokumentation, Braunschweig: oeding print 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/32210.html


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Jutta Rübke: Berufsverbote in Niedersachsen 1972-1990

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Die Dokumentation entstand als konkreter Beitrag zur Aufarbeitung des sogenannten "Radikalenerlasses" von 1972. Nach einem Beschluss, den die Ministerpräsidenten der Länder im Zuge einer Besprechung bei Bundeskanzler Brandt "zur Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst" gefasst hatten, überprüften die Sicherheitsbehörden zwischen 1972 und 1990 geschätzte 3,5 Millionen Westdeutsche bezüglich ihrer politischen Gesinnung. [1] Die Dokumentation geht auf eine Initiative des niedersächsischen Landtags zurück, der sich Anfang 2017 bei Betroffenen für erlittenes Unrecht entschuldigte und die ehemalige Landtagsabgeordnete Jutta Rübke (SPD) zur Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der Schicksale im Zusammenhang mit dem sogenannten "Radikalenerlass" berief. Die Herausgeberin eröffnet den Band mit einer bilanzierend-kontextualisierenden Einführung und vertritt dabei die These, die "Berufsverbote" hätten weniger konkrete Gefahren für die demokratische Ordnung als vielmehr Ängste und Befürchtungen reflektiert, deren Wurzeln im Kalten Krieg und im Linksterrorismus der Roten Armee Fraktion zu suchen seien. Der "Radikalenerlass" habe in Niedersachsen tiefgreifende Spuren hinterlassen und ein gesellschaftliches Klima der Angst vor dem Verlust der sozialen Existenz erzeugt, das bis heute nachwirke.

Hanna Legatis, die dem beratenden Arbeitskreis um die Landesbeauftragte Rübke angehörte, hebt dagegen die besondere Rolle von Medien hervor. Die Journalistin konzentriert sich auf die Printmedien der Bundesrepublik zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1980er Jahre, wobei die Zeit vor 1972 breiteren Raum einnimmt. In diesen Jahren hätten sich spannungsreiche Konstellationen herausgebildet, die schließlich zum "Radikalenerlass" geführt hätten. Diese Konstellationen zeigten sich nicht zuletzt in einer bemerkenswerten Polarisierung der Medienlandschaft. Zeitungen und Zeitschriften schürten zwar zumeist die Angst vor dem Kommunismus, kritische Artikel inspirierten aber auch nicht wenige junge Menschen dazu, gegen autoritäre Denkstrukturen zu protestieren. Mit Blick auf Niedersachsen zeichnet Hanna Legatis an ausgewählten Beispielen die tiefe Skepsis gegenüber allen antiautoritären Denkansätzen nach, die in den 1970er Jahren in den etablierten Medien spürbar war. Oft seien es zugespitzte Schlagworte gewesen, mit denen die Presse jede Kritik an den bestehenden Verhältnissen delegitimiert und alles, was mit den "68ern" zusammenhing, diskreditiert habe. Zugleich habe sich kaum jemand für die dunklen Seiten des "Radikalenerlasses" - Einschüchterung, Selbstzensur, Einschränkung der Meinungsfreiheit - interessiert.

Wilfried Knauer reflektiert die Ergebnisse seiner einjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit für das niedersächsische Justizministerium; der Historiker dürfte die Quellen zum "Berufsverbot" in Niedersachsen wie kein anderer kennen. Knauer geht bei seiner Analyse der Überprüfungspraxis in Niedersachsen bis zur Aufhebung des "Radikalenerlasses" exemplarisch vor. Als Quellen dienen ihm Stellungnahmen der Landesregierung, Politikerreden, Verfassungsschutzberichte und andere Dokumente, die es zulassen, die verschiedenen Positionen darzustellen und zu kontrastieren. Knauers Beitrag enthält auch quantitative Übersichten. Der Autor misst zwei bis 1989 ständig aktualisierten Listen mit sogenannten Bedenkenfällen besondere Bedeutung zu, da sie der 1974 eingerichteten interministeriellen Anhörkommission als Ausgangspunkt für Überprüfungsverfahren und Anhörungen dienten. Was diese Praxis angeht, kommt Knauer zu einem unmissverständlichen Schluss: "Obwohl ausdrücklich als Einzelfallprüfungen benannt, folgten sie einem eindeutigen Muster von politischer Gesinnungsprüfung zwecks Prognose späterer Verfassungstreue." (79)

Infographiken veranschaulichen die Ergebnisse der quantitativen Verfahrensanalyse, die vor allem auf neu zugänglichen Quellen des niedersächsischen Innen-, Kultus- und Wissenschaftsministeriums basiert. Überdies sind wichtige Dokumente zum Thema vollständig oder in Auszügen abgedruckt, etwa der grundlegende Beschluss der Ministerpräsidenten vom 28. Januar 1972, Gerichtsurteile oder Berichte der beteiligten Behörden sowie - als "normative Grundlagen" - die einschlägigen Erlasse der Landesregierung und Beschlüsse des Landtags von 1972 bis 2016.

Die Dokumentation ist nicht weniger als ein politisches Statement und eine Versöhnungsgeste; das wird auch durch die grafische Gestaltung und den Aufbau des Bands unterstrichen. Schon der Titel fällt durch eine ungewöhnliche Hervorhebung auf, bestimmte Textstellen sind geschwärzt, der zweite Teil ist auf schwarzem Papier gedruckt, um das Schwarz-Weiß-Denken hervorzuheben, das der Überprüfung politischer Überzeugungen innewohnte. Dieser zweite Teil enthält neun bewegende Selbstzeugnisse von Betroffenen, die Antwort auf die Frage geben, was das "Berufsverbot" mit ihnen gemacht hat; der Quellenwert der autobiografischen Rückblicke ist erheblich.

"Berufsverbote in Niedersachsen" ist mehr ein Anfang denn das letzte Wort. Die Forschung hat noch einiges zu tun, um die soziopolitischen Grundlagen des "Radikalenerlasses" zu erklären und die komplexe Praxis der Überprüfungen und "Berufsverbote" aufzuarbeiten - in Niedersachsen wie in der ganzen "alten" Bundesrepublik. [2]


Anmerkungen:

[1] Vgl. Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013, 340ff.; Manfred Histor: Willy Brandts vergessene Opfer. Geschichte und Statistik der politisch motivierten Berufsverbote in Westdeutschland 1971-1988, Freiburg 1999.

[2] Die 2018 an der Universität Hamburg abgeschlossene Dissertation von Alexandra Jaeger "Auf der Suche nach Verfassungsfeinden. Hamburger Berufsverbote zwischen Sicherheitspolitik, Bürokratie und Liberalisierung 1971-1987" ist ein Schritt in diese Richtung.

Jana Stoklasa