Rezension über:

John Considine: Small Dictionaries and Curiosity. Lexicography and Fieldwork in Post-Medieval Europe, Oxford: Oxford University Press 2017, XII + 321 S., ISBN 978-0-19-878501-9, GBP 65,00
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Rezension von:
Friedrich Pollack
Sorbisches Institut, Bautzen
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Pollack: Rezension von: John Considine: Small Dictionaries and Curiosity. Lexicography and Fieldwork in Post-Medieval Europe, Oxford: Oxford University Press 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 10 [15.10.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/10/30739.html


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John Considine: Small Dictionaries and Curiosity

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Mit Small Dictionaries and Curiosity hat der in Kanada lehrende Anglist John Considine ein ausgesprochen lesenswertes Buch zur europäischen Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit vorgelegt. Es schließt sowohl konzeptionell als auch inhaltlich an frühere Veröffentlichungen des Verfassers an, in denen er den methodisch anspruchsvollen Ansatz einer sozial- und ideengeschichtlichen Bespiegelung der frühmodernen Lexikografie und Lexikologie vorgezeichnet und eindrucksvoll umgesetzt hat. Considine, der seit über zwei Jahrzehnten auch als Gutachter für das Oxford English Dictionary tätig ist, versteht es, historische Wörterbücher und Glossare als Quellen nicht nur der Sprachgeschichte im engeren Sinne, sondern einer erweiterten Kulturgeschichte zu lesen. Sein profunder Überblick über die Entwicklungen verschiedener Räume und Zeiten der europäischen Geschichte macht seine Veröffentlichungen für einen sehr breiten Kreis von Historikerinnen und Historikern und historisch arbeitenden Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern interessant.

Nachdem sich Considine in zwei früheren Büchern der Sozial- und Ideengeschichte der frühneuzeitlichen Lexikografie in den klassischen und neuzeitlichen Hauptsprachen Europas gewidmet hat [1], gilt seine Aufmerksamkeit im hier zu besprechenden Band den sogenannten kleinen, oft weniger prestigeträchtigen Sprachen, den Sprachen ethnischer Minderheiten und sozialer Randgruppen, den metaphorischen Sprachinseln und realen Inselsprachen wie auch den sogenannten sterbenden Sprachen. Auch sie weckten ab dem 16. Jahrhundert das Interesse zahlreicher gelehrter Zeitgenossen, unter denen Gottfried Wilhelm Leibniz wohl der Bekannteste ist.

Da die kleinen im Gegensatz zu den großen Sprachen in der Frühneuzeit oft kaum verschriftlicht und noch viel seltener kodifiziert waren, bestand die einzige Möglichkeit ihrer lexikografischen Erfassung häufig im Aufsuchen und Ausfragen ihrer Sprecherinnen und Sprecher. In der Praxis der linguistischen Feldforschung überkreuzten sich sprachbezogene Interessen freilich sehr oft mit ethnografischen, politischen, historischen sowie naturkundlich-botanischen Neigungen der beteiligten Forscher, wodurch die entstandenen Wörterbücher und Wortlisten einen kulturgeschichtlichen Subtext erhalten, der uns weit mehr über die befragten Sprachgemeinschaften verrät als nur ihren Wortschatz.

Small Dictionaries and Curiosity zählt insgesamt 28 Kapitel. Auf eine kurze Einleitung folgen fünf chronologisch-thematische Teile. In der Schlussbetrachtung stellt Considine, mit Blick auf den Abschluss seiner Trilogie, einige instruktive Reflexionen über die Aufgaben und Grenzen der transdisziplinären Erforschung der europäischen Lexikografiegeschichte an. Ein umfangreiches Glossar im Anhang liefert kompakte Informationen zu den mehr als einhundert Sprachvarietäten, die im vorliegenden Buch eine Rolle spielen - und führt zugleich die große Sprachenvielfalt des frühneuzeitlichen Europa eindrücklich vor Augen. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein ausführliches Sach-, Orts- und Personenregister beschließen das Werk.

In Teil I ("Curiosity") entwickelt Considine die titelgebende These seiner Untersuchung, indem er die frühneuzeitliche Entwicklung der Lexikografie kleiner Sprachen in die Geschichte der Neugier und des wissenschaftlich-antiquarischen Sammelns und Systematisierens im Anschluss an Justin Stagl, Krzysztof Pomian, Brian Ogilvie und anderen einordnet. [2] Die wachsende Verfügbarkeit von Text und Wissen infolge des Buchdrucks, das sich wandelnde Verständnis von Sprache in der Renaissance, die Wiederentdeckung der ptolemäischen "Geographia" sowie die europäischen Expansionen am Beginn der Neuzeit hätten das Bewusstsein für linguistische Vielfalt nachhaltig befördert. Im Unterschied zu den großen Sprachen des zunehmend globalen Handels und Verkehrs, des sich entwickelnden Staatswesens und der zwischenstaatlichen Diplomatie, der Wissenschaften und der Künste sei das gelehrte Interesse an den europäischen Regional- und Minderheitensprachen jedoch nicht aus praktischen Erwägungen, sondern aus rein intrinsischen Motiven erwachsen. Wortlisten und Glossare des Rotwelschen, Wendischen, Altpreußischen usw. seien, so Considine, entstanden "purely to satisfy the maker's curiosity" (22). Was in dieser These allerdings zu kurz kommt, ist die zentrale Rolle der Kirchen, die im Zeitalter von Reformation und Konfessionsbildung ein durch und durch utilitaristisches Verhältnis zu den Sprachen kleiner Völker entwickelten. Nicht zufällig handelt es sich bei den ersten umfangreicheren Schriftdenkmälern vieler europäischer Kleinsprachen um religiöse Unterweisungsliteratur.

In den darauffolgenden Kapiteln der Teile II bis V präsentiert Considine sodann einen chronologischen Abriss der frühneuzeitlichen "tradition of curiosity-driven lexicography which was not primarily intended to satisfy the simple demands of the schoolroom, the trading mission, or the work of evangelization" (2). Dafür greift er weit über vierzig Fallbeispiele aus ganz Europa heraus, an denen er jeweils spezifische Aspekte der Sozial- und Kulturgeschichte vormoderner Kleinsprachenlexikografie illustriert, von der Rolle der beteiligten Akteurinnen und Akteure (Forscher, Informantinnen und Informanten, Rezipientinnen und Rezipienten), über die Praktiken, Hindernisse und Irrwege linguistischer Feldforschung, die Materialität der überlieferten Quellen bis hin zur Einordnung in größere wissenschafts- und ideengeschichtliche Zusammenhänge.

Den Beginn des gelehrten Interesses an Kleinsprachen und ihren Sprecherinnen und Sprechern datiert Considine in das "lange 16. Jahrhundert" (Teil II). Im Mittelpunkt hätten zunächst regionale Kryptolekte devianter Gruppen (Rotwelsch in Deutschland, Gergo in Italien, Argot / Jargon in Frankreich, Cant in England), schließlich auch das Romanes in ganz Europa (bislang älteste Wortliste aus der Feder des Ebersberger Mönchs Johannes von Grafing, um 1515) gestanden. Erst später weitete sich der Blick auf weitere regionale sowie bislang noch kaum verschriftlichte Sprachen wie Baskisch, Neugriechisch, Irisch, Scots, Gälisch, Lettisch, Altpreußisch und Krimgotisch.

Als charakteristisch für das "lange 17. Jahrhundert" (Teil III) hebt Considine die Entdeckung regionaler Varietäten und die komparatistische Erfassung von Dialekten und Regionalismen hervor. Exemplarisch illustriert er dieses Phänomen am Werk der Naturwissenschaftler John Ray und Edward Lhuyd, die auf Forschungsreisen umfangreiche Studien über die sprachlichen Varietäten auf den britischen Inseln anstellten.

Auch im sprachlich wie dialektal stark zergliederten Heiligen Römischen Reich war die gelehrte Beschäftigung mit regionalen Varietäten und Kleinsprachen weit verbreitet. In den Kapiteln zum "langen 18. Jahrhundert" (Teil IV) widmet sich Considine dieser Entwicklung von Conrad Gessner bis Gottfried Wilhelm Leibniz. In den Blick rückten zunehmend auch die Kleinsprachen des europäisch-asiatischen Grenzraums und Skandinaviens (Krimtatarisch, Kalmückisch, Mordwinisch, Saami und andere). Eine weitere besondere Entwicklung dieses Zeitraums stellt das Konzept der "sterbenden Sprache" und das daraus erwachsende Bedürfnis ihrer Dokumentation dar, was Considine am Beispiel von Altpreußisch, Polabisch, Cornish und Manx darlegt.

Im abschließenden Teil V seines Buches wagt Considine einen Ausblick auf den sich ankündigenden Paradigmenwechsel des 19. Jahrhunderts, als sich beispielsweise die Lexikografie des Schottisch-Gälischen, des Färöischen, des Serbischen, des Bretonischen oder des Finnischen im Geiste von Romantik und "nationalem Erwachen" der Erschließung bardischer Poesie (Volkslieder und Epen) aus (vermeintlich) "grauer Vorzeit" zu widmen begann.

Wenn es etwas Grundsätzliches an Considines Buch zu kritisieren gibt, dann vielleicht den Verzicht auf erläuternde Karten und Illustrationen, die die Orientierung in diesem ausgesprochen weitläufigen Untersuchungsfeld und seiner umfangreichen Materialbasis sicher erleichtert hätten. Das schmälert den Wert dieser gleichermaßen fundierten wie unterhaltsamen Lektüre jedoch keineswegs. Mit der Gattung des historischen Wörterbuchs erschließt Considine sowohl der Wissenschaftsgeschichte als auch der vergleichenden historischen Minderheitenforschung eine lohnenswerte Quellengruppe.


Anmerkungen:

[1] John Considine: Dictionaries in Early Modern Europe. Lexicography and the Making of Heritage, Cambridge 2008; John Considine: Academy Dictionaries 1600-1800, Cambridge 2014.

[2] Krzysztof Pomian: Collectors and Curiosities. Paris and Venice, 1500-1800, Cambridge 1990; Justin Stagl: A History of Curiosity. The Theory of Travel, 1550-1800, Chur 1995; Brian Ogilvie: The Science of Describing. Natural History in Renaissance Europe, Chicago 2006.

Friedrich Pollack