Rezension über:

Louis Pahlow / André Steiner: Die Carl-Zeiss-Stiftung in Wiedervereinigung und Globalisierung 1989-2004, Göttingen: Wallstein 2017, 543 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3084-9, EUR 39,90
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Rezension von:
Rainer Karlsch
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Karlsch: Rezension von: Louis Pahlow / André Steiner: Die Carl-Zeiss-Stiftung in Wiedervereinigung und Globalisierung 1989-2004, Göttingen: Wallstein 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 10 [15.10.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/10/31265.html


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Louis Pahlow / André Steiner: Die Carl-Zeiss-Stiftung in Wiedervereinigung und Globalisierung 1989-2004

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"Es wächst zusammen, was zusammen gehört". Mit diesem Satz reagierte Willy Brandt im November 1989 in einem Interview auf den Mauerfall. Einen besonders symbolträchtigen und volkswirtschaftlich bedeutsamen Fall aus dem Wiedervereinigungsprozess behandeln Louis Pahlow und André Steiner. Sie widmen sich der Vereinigung der Carl-Zeiss-Stiftungen in Jena und Heidenheim einschließlich ihrer Unternehmen sowie der 2003 erfolgten Reform des Stiftungsstatus.

Die Carl-Zeiss-Stiftung wurde 1889 durch Ernst Abbe in Jena gegründet, der sie nach seinem verstorbenen Geschäftspartner Carl Zeiss benannte. In die Stiftung wurden die Anteile Abbes an der Optischen Werkstätte (später Carl Zeiss Jena) und des Jenaer Glaswerks Schott & Genossen eingebracht. Hauptzweck der Stiftung war die Förderung der Stiftungsunternehmen. Darüber hinaus erfüllte sie soziale Verpflichtungen gegenüber den Mitarbeitern, förderte gemeinnützige Einrichtungen sowie Forschung und Lehre an der Jenaer Universität.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs evakuierten die Amerikaner die leitenden Mitarbeiter von Zeiss und Schott nach Heidenheim. Im nahen Oberkochen bauten die Zeissianer ein neues Werk auf. Die Jenaer Stiftungsbetriebe wurden 1948 gegen den Willen der Mehrheit der Belegschaft enteignet und in volkseigene Betriebe überführt. Die Stiftung in Jena blieb bestehen, nahm aber nur noch kulturelle und soziale Funktionen wahr. In Heidenheim argumentierte man aber damit, dass die Stiftung in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr existiere und nur von ihren Vertretern in Heidenheim repräsentiert werde. Die gegensätzlichen Rechtspositionen prallten in den Jahren des Kalten Kriegs scharf aufeinander und führten zu einer Reihe von Warenzeichenprozessen. Erst 1971 kam es zu einem Kompromiss. Die Fragen des Stiftungssitzes und des Statuts blieben aber in der Schwebe.

Zum 125jährigen Jubiläum der Carl-Zeiss-Stiftung erschien ein von Werner Plumpe herausgegebener Studienband, in dem auch die jüngere Geschichte der Stiftung behandelt wird. [1] Steiner und Pahlow schreiben nun diese Geschichte von 1989 bis 2004 fort. Ihr Buch besteht aus zwei weitgehend eigenständigen Teilen. Im ersten, umfangreicheren Teil analysiert Steiner die sehr komplizierten Prozesse der Vereinigung der Carl-Zeiss-Stiftungen West und Ost und ihrer Unternehmen. Im zweiten Teil behandelt Pahlow aus rechtshistorischer Sicht die 1996 begonnene Reform des Stiftungsstatuts.

Steiner stützt sich auf eine breite Quellenbasis aus den Unternehmens- und Landesarchiven und konnte als einer der ersten Autoren überhaupt auch den Aktenbestand der Treuhandanstalt im Bundesarchiv auswerten. Ihm gelingt eine sehr dichte und präzise Darstellung des Vereinigungsprozesses auf den Ebenen der Unternehmen und Stiftungen. Er berücksichtigt alle wichtigen Akteure: die Unternehmen, die Landesregierungen von Thüringen und Baden-Württemberg, die Stiftungsverwaltungen in Jena und Heidenheim, die Treuhandanstalt, das Bundesministerium der Finanzen und die Europäische Kommission.

Nach dem Mauerfall richteten sich die Hoffnungen der Mitarbeiter des einstigen Vorzeigekombinats Carl Zeiss Jena auf eine Vereinigung mit den Stiftungsunternehmen in Oberkochen und Mainz. Auch die Politik und die Treuhandanstalt sahen in der Zusammenführung der beiden Stiftungen und ihrer Betriebe die natürliche, sich aus der gemeinsamen Geschichte ergebende Lösung. Steiner zeigt nun aber auf, dass Oberkochen und Mainz nicht wirklich an einer Übernahme der Jenaer Betriebe interessiert waren. Letztendlich war die Warenzeichenfrage der entscheidende Punkt, der sie zum Einlenken zwang. Der Autor lässt den Leser die ganze Dramatik der Verhandlungen mit all ihren Winkelzügen nacherleben. Im ersten Jahr der Einheit prallten die unterschiedlichen juristischen Positionen der Stiftungen in Heidenheim und Jena derart heftig aufeinander, dass die beteiligten Akteure ernsthaft mit einem Scheitern der Verhandlungen rechneten. Noch am einfachsten war es, eine Lösung für die Jenaer Glaswerke zu finden. Weitaus schwieriger gestaltete sich die Suche nach einer gemeinsamen unternehmerischen Zukunft für die Zeiss-Unternehmen. Oberkochen setzte auf eine Minimallösung, bei der nur die Geschäftsfelder des Jenaer Betriebes mit einer eindeutigen Zeiss-Markenidentität übernommen und in die Carl-Zeiss-Jena GmbH überführt wurden. Die Bereiche, die nicht in diesen Nukleus überführt wurden, bildeten als Jenoptik GmbH eine eigenständige Gesellschaft ohne Zeiss-Warenzeichen. Für die Sanierung der Jenaer Unternehmen verpflichteten sich die Treuhandanstalt und das Land Thüringen, insgesamt 3,9 Milliarden DM aufzubringen, was von neoliberalen Kommentatoren als "ordnungspolitischer Sündenfall" bezeichnet wurde. Steiner hält sich mit Wertungen der Lösung zurück, lässt aber doch durchblicken, dass für die Privatisierungsbehörde eine Abwicklung der Jenaer Betriebe schon aus politischen Gründen nicht infrage kam. Der Geschäftsführer der Jenoptik GmbH, Lothar Späth, sah es ähnlich: "Wie hätte ganz Deutschland mit seiner neu gewonnenen Einheit da ausgesehen? [...] Wenn diese weltweit bekannten Filetstücke nichts mehr taugen, dann ist der Rest der DDR-Wirtschaft auch nur noch Schrott." [2]

Die spannende Geschichte der Jenoptik GmbH gehört leider nicht zum Gegenstand des Buches. Die Autoren beschränken sich konsequenterweise auf die Carl-Zeiss-Stiftungen West und Ost. Daher bleibt die Geschichte der Jenoptik GmbH, die sich, gemessen am Umsatz und der Zahl der Arbeitsplätze, wesentlich erfolgreicher als die Carl-Zeiss-Jena GmbH entwickeln sollte, noch zu schreiben.

In der Stiftungsfrage wirkten die Rechtspositionen aus der Zeit des Kalten Kriegs noch lange nach. Eine Befriedung wurde erst im August 1994 mit dem Vertrag zur Zusammenführung der beiden Carl-Zeiss-Stiftungen erreicht, wonach die Jenaer Stiftung die Aufnahme in die Heidenheimer beantragte und damit aufhörte zu existieren. Abschließend behandelt Steiner die Integration der neuen Carl-Zeiss-Jena GmbH in die gemeinsame Stiftung. Die Werke in Jena und Oberkochen, nunmehr in einem Haftungsverbund zusammengeschlossen, befanden sich Anfang der 1990er Jahre in einer tiefen Krise. Um das Sanierungsprogramm wurde erbittert gestritten. Noch bis Ende 1994 wurden die Verluste in Jena von der Treuhandanstalt abgedeckt, danach belasteten sie die gesamte Zeiss-Gruppe. Es dauerte noch bis zum Jahr 2000, bis die Carl-Zeiss-Jena GmbH die Trendwende schaffte.

Die Krise der Stiftungsunternehmen bildete den Hintergrund für die Wiederaufnahme der Diskussion um eine grundlegende Reform des Stiftungsstatuts, der sich Louis Pahlow widmet. Er benennt die bedrohliche Schieflage von Zeiss als Hauptgrund dafür, dass eine Umwandlung der Stiftungsunternehmen in Aktiengesellschaften unter Auflösung des Haftungsverbunds mit Schott gefordert wurde. Pahlow weist Heinz Dürr, der im Januar 1999 das Amt des Stiftungskommissars übernahm und als ein erfolgreicher Sanierer galt, eine entscheide Rolle bei der Revision des Stiftungsstatuts zu. Im Zusammenspiel mit dem Management arbeitete Dürr auf eine Zurückdrängung der Stiftungsverwaltung und Ausweitung der unternehmerischen Freiräume hin. Pahlow schildert überzeugend, wie die Debatten um die Stiftungsreform die Belegschaft in Oberkochen polarisierte. Der Notwenigkeit zur Veränderung standen die Ängste vor Ausgliederungen von Unternehmensteilen und vor dem Verlust von Pensionsansprüchen gegenüber. Am Ende des achtjährigen Reformprozesses standen die Ausgliederung der Stiftungsunternehmen aus der Carl-Zeiss-Stiftung und ihre Überführung in Aktiengesellschaften sowie die Änderung des Stiftungsstatuts. Die Stiftung besaß nun nicht mehr so viel Macht wie vor der Reform, verfügte aber über weit größere Mittel. Pahlow erklärt die 2003 beendete Reform des Stiftungsstatuts hauptsächlich mit dem im Vergleich zum 19. und 20. Jahrhundert sich rasch verändernden wirtschaftlichen Umfeld der Bundesrepublik. Das Modell zweier unselbständiger durch die Carl-Zeiss-Stiftung gesteuerter Unternehmen hatte sich überlebt.

Auf Namens- und Stichwortregister sowie ein Literaturverzeichnis haben die Autoren und der Verlag leider verzichtet. Das gut geschriebene Buch ist nicht nur Rechts-, Wirtschafts- und Sozialhistorikern sehr zu empfehlen, sondern verdient einen möglichst breiten Leserkreis. Tiefere Einblicke in die Mühen des Vereinigungsprozesses auf Unternehmensebene und die Konsequenzen der wirtschaftlichen Umbrüche am Ende des 20. Jahrhunderts für die Unternehmensorganisation vermochten bisher nur wenige andere Publikationen zu vermitteln.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Werner Plumpe (Hg.): Eine Vision - zwei Unternehmen. 125 Jahre Carl-Zeiss-Stiftung, München 2014.

[2] Lothar Späth: Ich habe fest an Jena geglaubt, in: Dietmar Grosser / Hanno Müller / Paul-Josef Raue (Hgg.): Treuhand in Thüringen. Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde, Essen 2013, 173-181, hier 175.

Rainer Karlsch