Rezension über:

Ruth Albrecht / Ulrike Gleixner / Corinna Kirschstein u.a. (Hgg.): Pietismus und Adel. Genderhistorische Analysen (= Hallesche Forschungen; Bd. 49), Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2018, VIII + 255 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-10980-2, EUR 46,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Alexander Schunka
Bremen / Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Schunka: Rezension von: Ruth Albrecht / Ulrike Gleixner / Corinna Kirschstein u.a. (Hgg.): Pietismus und Adel. Genderhistorische Analysen, Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 3 [15.03.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/03/31942.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Ruth Albrecht / Ulrike Gleixner / Corinna Kirschstein u.a. (Hgg.): Pietismus und Adel

Textgröße: A A A

Dem vorliegenden Band liegt eine Tagung des Arbeitskreises "Gender & Pietismus" zugrunde, die im Jahr 2015 an den Franckeschen Stiftungen zu Halle stattgefunden hat. Im Zentrum steht das Verhältnis zwischen pietistischer Frömmigkeit und adeliger Standeskultur in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Für den Band mit seinen dreizehn Beiträgen zeichnen insgesamt fünf Herausgeberinnen verantwortlich. Die ersten drei Aufsätze situieren das Thema in unterschiedlichen Forschungsfeldern. Einleitend umreißt Ulrike Gleixner pietistisch-adelige Schnittmengen, insbesondere die Handlungsspielräume adeliger Frauen im Pietismus, und stellt die Beiträge vor. Katrin Keller fragt auf breiter Materialgrundlage nach religiösen Aktionsradien adeliger Frauen seit der Reformation und bietet einen hilfreichen Seitenblick auf katholische Zusammenhänge. Der Forschungsüberblick von Xenia von Tippelskirch präsentiert Ausdrucksformen und Auswirkungen des sogenannten radikalen Pietismus, wie sie sich in zahlreichen kleineren Adelsherrschaften des Reichs niederschlugen.

Die Fallstudien sind nach drei (nicht übermäßig aussagekräftigen) Kategorien "Herrschaft", "Handlungsräume" und "Schreiben" angeordnet. Martin Prell beleuchtet das Wirken Erdmuthe Benignas von Reuß-Ebersdorf, die zwischen 1711 und 1720 die Herrschaft Ebersdorf vormundschaftlich regierte, anhand ihrer Briefe an ihren Köstritzer Vertrauten Heinrich XXIV. Diese Briefe dienten ihr als Herrschaftsinstrument ebenso wie zur Selbstvergewisserung als fromme Landesfürstin, die weltliche Politik und gottgefälliges Leben in Einklang zu bringen versuchte. Für Angehörige des vermeintlich "schwachen" Geschlechts diente pietistische Frömmigkeit hier gleichsam zur Selbstermächtigung (vgl. 83f.), verbunden mit einer besonderen geistlichen Verantwortung. Daran konnten sich wiederum politische Ziele knüpfen. Grenzziehungen verliefen in der Korrespondenz Erdmuthes "nicht zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen Nicht-Wiedergeborenen und Wiedergeborenen" (93).

Eine Mittelsperson zwischen unterschiedlichen frömmigkeitlichen Lagern thematisiert Eva Kormann mit Susanna Katharina von Klettenberg, deren pietistische Freundschaftskonzepte aus ihren Texten extrapoliert und deren Schreibpraktiken beleuchtet werden. In der Ehe der Grafen von Gersdorf in der Oberlausitz dagegen traten vor allem die Konfliktlinien zwischen Halle und Herrnhut zu Tage, wie der Beitrag von Lubina Mahling illustriert. Während Graf Friedrich Caspar von Gersdorf als Verwandter Zinzendorfs und Politiker die Brüdergemeine protegierte, ging nach seinem frühen Tod die Witwe Dorothea Charlotte Luise (bei gewissen Sympathien für den Halleschen Pietismus) energisch gegen jegliche Herrnhuter Einflüsse vor - obwohl sie ja eigentlich dem angeblich pietismusaffinen Typus einer "frommen Gräfin" mit politischer Verantwortung entsprochen hätte. Der Beitrag illustriert die Spielräume innerhalb des Adels der Zeit und verweist gleichzeitig auf den heute verbreiteten Anachronismus, die Herrnhuter Brüdergemeine vorschnell einem "Pietismus" zuzuschlagen, der ansonsten üblicherweise mit Halle assoziiert wird. Hallescher Pietismus und Herrnhutertum waren zeitgenössisch eben nicht zwei Schattierungen derselben Bewegung, sondern zwei einander oft gleichsam agonal gegenüberstehende Lager.

Angesichts der vielfältigen Adelseinflüsse auf die Brüdergemeine ist Herrnhut - kaum überraschend - prominent im Band vertreten: Peter Vogt thematisiert das Spannungsverhältnis zwischen Standeskultur und Spiritualität bei Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und fragt danach, inwieweit "aristokratische" Einflüsse auf die Geschlechterrollen innerhalb seiner Gemeinschaft eingewirkt haben. Die Aufwertung weiblicher Handlungsspielräume zu Zinzendorfs Zeit in Herrnhut, das gleichzeitig immer stärker ein Anziehungspunkt für junge Adelige beiderlei Geschlechts wurde, hing laut Vogt mit Zinzendorfs eigenen Paradoxien zwischen weltlicher Standesorientierung, spirituellen Gleichheitsvorstellungen und gleichzeitigem Streben nach der "obersten Stelle" im "Reiche der Demut" (111) zusammen. Möglicherweise habe das selbstbewusste Handeln von Frauen an Grafenhöfen sich unter Zinzendorf in der Brüdergemeine niedergeschlagen, und Zinzendorf habe seine Vorstellungen von spiritueller Gleichheit von seiner adeligen Gattin ebenso wie von anderen Frauen eingefordert. Der Beitrag von Barbara Becker-Cantarino weist schließlich nach, dass es Zinzendorfs Frau Erdmuthe Dorothea war, die sich im Rahmen adeliger Ökonomievorstellungen um die Finanzen der Gemeine kümmerte. Deutlich wird: Zinzendorf war finanziell alles andere als eine gute Partie. Auch bei der Bewältigung der täglichen "Last des Finanzwesen[s]" (163) war er auf seine Frau angewiesen, der er in den dreißiger Jahren seinen Herrnhut-Berthelsdorfer Besitz übertrug (170). Inwieweit ihr Handeln jedoch typisch für das "Engagement adliger Frauen im Pietismus" war, bleibt offen.

Das Engagement adeliger Frauen bei der Gründung und Finanzierung von Waisenhäusern nach Halleschem Vorbild steht im Zentrum des Beitrags von Antje Schloms. Häufig geschah dies durch testamentarische Verfügungen von Witwen, in anderen Fällen als gemeinschaftliche Stiftung eines Landesherrn und seiner Frau. Teils traten adelige Frauen als Gründerinnen und Direktorinnen in Erscheinung. Oftmals bestanden Verbindungen nach Halle, doch war weibliches Engagement im Waisenhauswesen nicht auf pietistische Kreise und ebensowenig auf das Luthertum beschränkt. Adelige Jungen und Mädchen im pietistischen Kontext thematisiert Pia Schmid, die anhand einer Leichenpredigt und einer Exempelgeschichte die erbaulich-didaktische Funktion derartiger Lebensbeschreibungen analysiert. Pietistische Frömmigkeit eröffnete demnach adeligen Kindern beiderlei Geschlechts unterschiedliche Handlungsspielräume; wie sich dies in frommen Exempelgeschichten über nichtadelige Kinder darstellt, wäre vielleicht zu prüfen. Cornelia Niekus Moore liest Leichenpredigten männlicher und weiblicher pietistischer Adeliger im Kontext der zeitgenössischen Fürstenspiegelliteratur und betont die Schwierigkeiten, entlang dieser Texte zu einem "pietistische[n] Herrscherideal" (214) vorzustoßen. Auf die Suche nach einer Ikonographie adelig-pietistischer Männlichkeiten begibt sich schließlich der Beitrag von Claus Veltmann, der Porträts pietistischer Adeliger untersucht. Deren verbreitete Abbildungen im Harnisch seien vor allem als typisches Adelsattribut zu verstehen; primär standen sie mit den Porträtkonventionen der Zeit im Einklang.

Insgesamt ist der Band - anders als manch andere Sammelwerke zu Phänomenen "des" Pietismus - erfreulich wenig auf Halle fokussiert, auch wenn Francke und sein Waisenhaus zurecht immer wieder als Referenzpunkte im Hintergrund auftauchen. Der etwas zu pauschalen älteren Annahme, wonach pietistische Frömmigkeit unter Adeligen des Reiches (speziell an den sogenannten "frommen Grafenhöfen") angesichts des Fehlens anderweitiger wirtschaftlicher und politischer Einflussmöglichkeiten gleichsam zur herrschaftlichen Ersatzbefriedigung geworden sei, setzen mehrere Aufsätze neue und differenzierte Perspektiven entgegen. Auch wenn es offensichtlich unter Adeligen um mehr ging als nur um eine Nachahmung nichtadeliger Spiritualität, wären Ausdrucksformen 'pietistischer' Frömmigkeit sicherlich noch weiter innerhalb des breiten spirituellen Spektrums im frühen 18. Jahrhundert aufzufächern und mit anderen zeitgenössischen religiösen Praktiken im Protestantismus wie im Katholizismus abzugleichen. Dies betrifft ebenfalls die geschlechtergeschichtliche Perspektive, die in manchen der hier versammelten Beiträge etwas zu stark auf die Frage nach der Wirksamkeit von Frauen reduziert wird. Der Band bietet jedenfalls zahlreiche Anregungen zur Weiterarbeit.

Alexander Schunka