Rezension über:

Irene Eber (Hg.): Jewish Refugees in Shanghai 1933-1947. A Selection of Documents (= Archiv jüdischer Geschichte und Kultur; Bd. 3), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 718 S., 3 Kt., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30195-1, EUR 120,00
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Rezension von:
Sarah Hagmann
Universität Basel
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Sarah Hagmann: Rezension von: Irene Eber (Hg.): Jewish Refugees in Shanghai 1933-1947. A Selection of Documents, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 5 [15.05.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/05/32688.html


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Irene Eber (Hg.): Jewish Refugees in Shanghai 1933-1947

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Die Erinnerung an die 18.000 bis 20.000 meist deutschen und österreichischen Juden, die insbesondere ab November 1938 vor den Nationalsozialisten in die exterritorialen Stadtteile Shanghais, dem International Settlement und der Französischen Konzession, geflohen sind, ist sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit wenig ausgeprägt. Dies überrascht angesichts der neueren wissenschaftlichen Publikationen [1], persönlichen Erinnerungen und Filme. Eine Erklärung dafür mag in der geographischen Distanz zu Europa liegen, in der dominanten Wahrnehmung der USA und Palästinas oder in der Tatsache, dass Shanghai "nur" ein temporäres Exil war. Diese Erinnerungslücke sucht die Sinologin Irene Eber mit ihrer über 700-seitigen Quellenedition zu füllen. Anhand zeitgenössischer Briefe, Telegramme, Berichte, Zeitungsartikel, Gedichte und Tagebucheinträge sowie späterer Memoiren sollen die Leserinnen und Leser Einblicke in die Perspektiven der Geflüchteten und der Agierenden vor Ort erhalten und verstehen "what Shanghai was like and why it was to Shanghai that the Jews came" (13). Hierzu präsentiert Eber 184 Dokumente auf Deutsch, Englisch, Jiddisch, Russisch und Chinesisch aus israelischen, europäischen und nordamerikanischen Archiven.

Die Edition gliedert sich in acht thematische, chronologisch angeordnete Abschnitte, denen jeweils eine kurze Einleitung vorangestellt ist. Das erste Kapitel "Destination China: Opponents and Proponents" verdeutlicht, dass Shanghai vor allem deshalb zu einem Zufluchtsort für Juden wurde, weil durch den Japanisch-Chinesischen Krieg ab 1937 die chinesische Passkontrolle im Hafen endete. Ein komplexes Gefüge aus politischen und wirtschaftlichen Akteuren beeinflusste die Auswanderung nach Shanghai: Während der britisch dominierte Shanghai Municipal Council (SMC) die Einwanderung in das International Settlement mithilfe der britischen Botschaft in Berlin, der Konsulate im Deutschen Reich und des Foreign Office zu verhindern suchte, führte das Hanseatische Reisebüro auf Bestreben Adolf Eichmanns die Vertreibung von Juden nach Shanghai durch. Jüdische Hilfsorganisationen schätzten indessen die Eignung Shanghais als Emigrationsziel sehr unterschiedlich ein.

In Kapitel zwei "Journeys, Arrivals, and Settling In" nimmt Eber die Leserinnen und Leser unter anderem mit an Bord der Conte Verde im Herbst 1938, als Hedwig Eisfelder ihren Berliner Verwandten aufgeregt und doch besorgt "all das schöne, was wir hier zu sehen bekamen" (180) beschrieb. Angesichts der steigenden Zahl angekommener Juden verkündeten im Sommer 1939 der SMC, die Japaner und die Franzosen die "Prohibition of entry of European Refugees into Shanghai" (146). Viel mehr noch als dieser Erlass leitete jedoch der Kriegsbeginn in Europa das Ende der Seeroute nach Shanghai ein.

Die trans- und internationalen Verflechtungen der Fluchterfahrungen werden in Kapitel drei "The Polish Refugees Arrive, 1941", eindrucksvoll illustriert: Im Zentrum stehen hier die 3.000 bis 4.000 polnischen Juden, die 1940/41, ausgestattet mit niederländischen Visa für Curaçao und japanischen Transitvisa, nach Litauen und der Sowjetunion in Japan strandeten. Circa 1.000 Personen wurden nach Shanghai geschickt. Sie trugen dazu bei, dass dort nun auch Jiddisch und Polnisch zu hören war.

Kapitel vier, sechs und sieben beleuchten am Beispiel von sozialen und kulturellen Institutionen die Anstrengungen der Juden, sich in Shanghai einzurichten. Zeitungen in Deutsch oder Jiddisch, Theateraufführungen, Cafés und eigene Geschäfte waren im Exil wichtige Mittel, um sich der eigenen Identität zu versichern, den Lebensunterhalt zu verdienen und ein Gefühl von Normalität herzustellen. Andererseits versprachen berufsbildende Kurse der Hilfsorganisation ORT "the best chances in the postwar reconstruction for work all over the world" (315). Eine seltene Perspektive auf die ansonsten überwiegend von Männern beschriebene Lage der Juden bietet zudem der Bericht von Laura Margolis, der Leiterin des American Jewish Joint Distribution Committee in Shanghai. Sie monierte, ihre Arbeit werde von "politics, personalities and power drives on the part of the leaders of the committees" (393) behindert.

Das fünfte Kapitel "Shanghai Anti-Semitism and the Designated Area, 1943-1945" illustriert eindrücklich die von Dan Diner im Vorwort erwähnte "variety of entangled and disentangled configurations" (10): So sahen sich die Geflüchteten auch in Shanghai mit antisemitischen Zeitungsartikeln und Boykott-Kampagnen der lokalen Nationalsozialisten konfrontiert. Ab Mai 1943 siedelten die Japaner außerdem alle staatenlosen Personen, die nach 1937 angekommen waren, zwangsweise in eine "Designated Area" im Stadtteil Hongkou um. Diese Maßnahme betraf insbesondere die ehemals deutschen Juden. Die Quellen zeigen, dass trotz dieser massiven Einschränkung und der Isolation Shanghais seit Beginn des Pazifikkrieges das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und jüdische Hilfsorganisationen weltweit miteinander kooperierten, um die Juden in Shanghai finanziell zu unterstützen.

Die Quellen des letzten Kapitels "End of the War and New Decisions" thematisieren die ambivalente Stimmung unter den Juden in Shanghai ab Sommer 1945: Die Freude über die japanische Kapitulation wich bald der Sorge um die ungewisse Zukunft, und so appellierte Alfred Schwarz 1946 im Shanghai Herald an die Weltgemeinschaft: "Wir wollen leben und arbeiten. Nehmt uns auf! Euer Edelmut wird belohnt werden!" (655)

Ebers eingangs postulierte Absicht wird durch die Lektüre erfüllt: Die Quellen lassen die Leserinnen und Leser in die vielfältige Gefühls- und Gedankenwelt der Juden eintauchen und begreifen, wie Hilfsorganisationen oder Behörden mit ihnen umgingen. Daneben werden sowohl Shanghais Internationalität als auch die Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen lokalen und globalen Akteuren und Ereignissen deutlich. Weitere Stärken der Edition liegen darin, die Heterogenität innerhalb der jüdischen Gemeinde in Shanghai sichtbar und durch Übersetzung der Quellen ins Englische - mit bedauerlicher Ausnahme der deutschsprachigen Quellen - einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen. Die Edition besticht durch eine große redaktionelle Sorgfalt und Kommentierung der Quellen. Ebenso hilfreich sind die ausführlichen Hinweise zu Personen, Institutionen, weiterführender Literatur und Quellenbeständen. Eine Karte der Fluchtrouten nach Shanghai, Stadtpläne, eine Chronologie und eine Liste der Straßennamen erleichtern das Verständnis zusätzlich.

Natürlich kann eine Edition nur einen Ausschnitt der verfügbaren Quellen darstellen. Auffallend ist jedoch, dass die Perspektiven von Frauen, Kindern, Jugendlichen und chinesischen Akteuren kaum vertreten sind. Ein weiteres Ungleichgewicht ist hinsichtlich der repräsentierten Quellenarten festzustellen - knapp die Hälfte der Dokumente besteht aus Zeitungsbeiträgen. Andere Quellenbestände wie etwa die "Visa Investigation Records" des amerikanischen Generalkonsulats in Shanghai, die die Geschichte der jüdischen Weiterwanderung in die USA bis 1951 thematisieren [2], fehlen. Die 33 Fotografien am Ende der Edition hätten ferner durch eine quellenkritische Einordnung noch an Wertigkeit gewinnen können. Dass sich die Quellenedition deutlich an der 2012 erschienenen Monographie der Herausgeberin orientiert, tut dem Wert der Publikation keinen Abbruch [3].

Irene Eber ist eine umfassende Quellenedition gelungen, die beeindruckend ihre langjährige Forschungstätigkeit und Expertise widerspiegelt. Die vielen erstmals vollständig abgedruckten Dokumente dürften daher Studierenden und Forschenden eine wahre Fundgrube und Anregung für weitere Arbeiten sein.


Anmerkungen:

[1] Isabella Jackson: Shaping Modern Shanghai. Colonialism in China's Global City, Cambridge 2018. Zhuang Wei: Erinnerungskulturen des jüdischen Exils in Shanghai (1933-1950). Plurimedialität und Transkulturalität, Berlin 2015. Judith Weißbach: Exilerinnerungen deutschsprachiger Juden an Shanghai 1938-1949, Heidelberg 2017.

[2] National Archives: Visa Investigation Records of the Shanghai Diaspora Communities, 1946-1951, online unter: https://www.archives.gov/research/foreign-policy/shanghai-visas (abgerufen am 29.03.2019).

[3] Irene Eber: Wartime Shanghai and the Jewish Refugees from Central Europe. Survival, Co-Existence, and Identity in a Multi-Ethnic City, Berlin / Boston 2012.

Sarah Hagmann