Rezension über:

Eagle Glassheim: Cleansing the Czechoslovak Borderlands. Migration, Environment, and Health in the Former Sudetenland, Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 2016, ix + 275 S., ISBN 978-0-8229-6426-1, USD 28,95
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Rezension von:
Eva Hahn
Gerolstein
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Eva Hahn: Rezension von: Eagle Glassheim: Cleansing the Czechoslovak Borderlands. Migration, Environment, and Health in the Former Sudetenland, Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 2016, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 11 [15.11.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/11/33703.html


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Eagle Glassheim: Cleansing the Czechoslovak Borderlands

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Eagle Glassheim, Professor an der University of British Columbia in Vancouver, ist Historikern der böhmischen Länder bzw. der Tschechoslowakei seit dem Erscheinen seines ersten Buches im Jahre 2005 wohl bekannt. [1] Seine neueste Veröffentlichung behandelt die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus den böhmischen Ländern und deren Folgen aus einer ungewöhnlichen Perspektive: Laut Buchumschlag sollen wir erfahren, wie "the lessons drawn from the Sudetenland speak to the deep social traumas and environmental pathologies wrought by ethnic cleansing and state-sponsered modernization processes", und der Verfasser distanziert sich von gängigen Vereinfachungen: "Rather than claiming a direct causual link between expulsions and the devastation of the borderland, I see ethnic cleansing, Communist social engineering, and late industrial modernity as related and intertwined phenomena" (8). Sein Buch sei eine Geschichte der tschechoslowakischen Grenzgebiete "as a mirror, as both a real place and a reflection of utopian and dystopian visions of social, cultural, and material health" (12).

Das Buch besteht aus sechs Kapiteln und einem persönlichen Nachwort des Autors ("Afterword. 'A Shared Longing'"), in dem er aus den eigenen familiären Kindheitserfahrungen in den USA sein Interesse an den Traditionen der Heimatbewegungen des 19. und 20. Jahrhundert und eine Nostalgie "for the landscapes of the former Sudetenland" im Stil des Psychiaters und Publizisten Petr Příhoda sowie der tschechischen Vereinigung "Antikomplex" (188ff.) ableitet.

Die beiden ersten Kapitel sind der Vorgeschichte und dem "Cleansing the Borderland" gewidmet, das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Thema "Expelees and Health in Postwar Germany", und im nachfolgenden geht es um die Folgen der Aussiedlung für die tschechoslowakischen Grenzgebiete. Im fünften Kapitel werden wir über die Geschichte der planmäßig durchgeführten Sprengungen der nordböhmischen Stadt Brüx (Most) sowie die Umsiedlung ihrer Bevölkerung in eine neu aufgebaute Stadt aus den 1970er Jahren informiert. Im sechsten Kapitel "Unsettled Landscapes" geht es um die Verflechtungen der tschechischen und deutschen Narrative "of failure and decay in the borderlands"; hier zeichnet der Verfasser nach, wie die Entwicklungen in den tschechoslowakischen Grenzgebieten von beiden Seiten der deutsch-tschechischen Grenze unter permanenter Beobachtung standen und die Politik sowie Verwaltung des kommunistischen Staates nach Problemlösungen suchte.

Glassheim bietet keine analytische historische Studie, sondern sechs lose verbundene Essays, die am Beispiel der deutsch-tschechischen Erfahrungen auf nationale und thematisch übergreifende Phänomene des 20. Jahrhunderts hinzuweisen versuchen. Dies ist zweifellos ein verdienstvolles Unterfangen, aber gerade deshalb verdient das Buch nicht nur Lob, sondern auch kritische Fragen.

Warum bedient sich der um die Sensibilisierung unseres Blicks auf die Rolle rhetorischer Mittel bemühte Verfasser selbst unpräziser Begrifflichkeiten wie etwa der Bezeichnungen borderlands und former Sudetenland? In den böhmischen Ländern ist keine Region jemals als "die Grenzgebiete" oder als "das Sudetenland" bezeichnet worden, wenn man vom kurzen Zwischenspiel der deutsch-völkischen und nationalsozialistischen Agitatoren und ihrer Versuche absieht, sozial und ethnisch heterogene "deutsche" Gebiete mit dem Wort "Sudetenland" abzugrenzen.[2] Somit bleibt der geografische Raum, der im Fokus des Buches steht, vage; meistens ist ohnehin nur von Nordböhmen die Rede. Ebenso problematisch ist die Ethnisierung des deutsch-tschechischen Zusammenlebens in den böhmischen Ländern, als hätten dort Tschechen und Deutsche nicht in gemeinsam geteilten staatsrechtlichen Strukturen, sondern als zwei nach ethnischen Kriterien getrennte Gesellschaften gelebt. Das führt zu vagen Analogien und Äußerungen, etwa über sog. "Nationalisten" (zum Beispiel 26, 33, 65), und vernebelt die grundlegende Problematik moderner Nationalitätenkonflikte, die sich aus komplexen Spannungen zwischen ethnischen, politischen und staatsrechtlichen Zusammenhängen ergaben (und bis heute überall ergeben, wie zur Zeit allein in Irland, Schottland oder Katalonien zu beobachten ist).

Als ein drittes Beispiel unpräziser Begrifflichkeit des Verfassers drängt sich seine Insinuation auf, dass die Erfahrungen der Nachkriegstschechoslowakei als pars pro toto für Ost- bzw. Ostmitteleuropa angesehen werden sollten. So heißt es etwa, dass die aus der Tschechoslowakei ausgesiedelten Deutschen "had joined millions of other expelled Germans from the east in the largest wave of forced migration in history" (5), ohne dass geklärt wird, woher, wann und wie welche Gruppen der in Nachkriegsdeutschland als "Vertriebene" bezeichneten Menschen in die beiden deutschen Staaten gelangt waren. Die Erfahrungen der Deutschen aus der Tschechoslowakei weisen jedoch markante spezifische Züge auf. Dort lebte die europaweit mit Abstand zahlenmäßig größte deutsche Minderheit, und zwar der überwiegende Teil ihrer Angehörigen in unmittelbar an das Deutsche Reich angrenzenden Gebieten, die im 19. und 20. Jahrhundert in der reichsdeutschen politischen Öffentlichkeit weitgehend für einen integralen Bestandteil der sogenannten "deutschen Länder" beziehungsweise des "geschlossenen deutschen Kulturbodens" gehalten wurden. Mit anderen Gruppen der Vertriebenen, sei es etwa mit den Russland-, Dobrudscha- oder Siebenbürgendeutschen, teilten die Deutschen aus der Tschechoslowakei nur wenige Erfahrungen, wie auch die historischen Entwicklungen der von ihnen verlassenen Gebiete sich kaum ähnelten.

Der Verfasser vernachlässigt die historisch-politischen Aspekte seiner Geschichtskonstruktion und baut somit seine Aussagen über die Zusammenhänge zwischen "ethnic cleansing, Communist social engineering, and late industrial modernity" (8) auf einer willkürlichen Auswahl vager Informationen auf. Deshalb wird ein aufmerksamer Leser seinen Bemühungen um die Einbettung der Nachkriegsumsiedlungen und um deren Folgen in Gestalt pathologischer Erscheinungen moderner Gesellschaften kaum folgen können. Ob wir zur Völkerversöhnung und Vorliebe für kleine Heimatregionen beitragen (wie Glassheim in seinem Nachwort andeutet), wenn wir empirisch unbegründete Geschichtsbilder konstruieren, ist fraglich. Vielmehr scheint es, dass es eher zu neuen Konflikten beiträgt, wie die bisherigen Erfahrungen mit der Rezeption der beiden oben genannten Vorbilder Glassheims (Příhoda und "Antikomplex") in Tschechien zeigen.


Anmerkungen:

[1] Eagle Glassheim: Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy, Cambridge, MA 2005.

[2] Mirek Nĕmec: "Sudeten/Sudety" als deutsch-tschechisches Palimpsest, in: Bohemia 53 (2013), 94-111.

Eva Hahn