Rezension über:

Sarah-Maria Schober: Gesellschaft im Exzess. Mediziner in Basel um 1600 (= Campus Historische Studien; Bd. 77), Frankfurt/M.: Campus 2019, 443 S., 13 Farb-, 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51028-6, EUR 49,00
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Rezension von:
Tatjana Niemsch
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Tatjana Niemsch: Rezension von: Sarah-Maria Schober: Gesellschaft im Exzess. Mediziner in Basel um 1600, Frankfurt/M.: Campus 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 5 [15.05.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/05/33423.html


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Sarah-Maria Schober: Gesellschaft im Exzess

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Mit ihrer 2019 publizierten Dissertation ''Gesellschaft im Exzess - Mediziner in Basel um 1600'' legt Sarah-Maria Schober eine auf Erkenntnisse der Sozial- und Stadtgeschichte sowie auf die der Körpergeschichte und der Geschichte der Medizin sicher zugreifende, dabei innovative und eigenständige Forschungsarbeit vor. Beispielhaft zeigt Schober in vier thematischen Kapiteln, weshalb dem Exzess um 1600 eine ordnungsbildende Funktion zukam. Sie untersucht Beziehungsgeflechte - zentral die der Baseler Mediziner Felix Platter, Theodor Zwinger und Caspar Bauhin - u.a. anhand von Briefen, Drucken und Bildern, Manuskripten, Ratsprotokollen und Fakultätsakten. Dem Exzess, den sie als ''spielerische'', aber ''ernstzunehmende Figur der Grenzüberschreitung'' (13) versteht, dessen Ausprägungen sich unter anderem in der Völlerei, der Unmäßigkeit beim Trinken und in der Sexualität oder der Zurschaustellung von Reichtum zeigten, schreibt die Autorin eine soziale Produktivität fernab einer oftmals naheliegenden Zuschreibung als "Epochenkolorit" (19, Fn 25) zu, die in der bisherigen Forschung weitgehend unerwähnt bleibt. [1] So seien über exzessive Situationen nicht nur Zugehörigkeiten demonstriert und berufliche Netzwerke aufgebaut worden. Stattdessen wurden, so kann Schober belegen, im Exzess gesellschaftliche Regularien verhandelt (13).

Bevor die Autorin in die Analyse einsteigt, führt sie in Beschreibungen des Exzesses ein, erläutert Ordnungsstrukturen, gibt einen prägnanten Überblick über städtische Gesellschaften um 1600, über deren soziale Beziehungen im Allgemeinen und über die sozialen Gefüge der Mediziner im Besonderen. Sie streift beinahe beiläufig wesentliche Begriffe ihrer Forschung wie den der ''fluiden contact zone'' (21) und grenzt sie von den im Zuge des spatial turn etablierten ''sites'' (36) als allein topografische Orte der Aushandlung ab, um soziale Situationen für ihre Analyse gangbar zu machen (11-40).

Anhand ihres ersten thematischen Kapitels, ''Positionierungen im Fluiden - Das Bad'' (41-120) verweist Schober auf zwei wesentliche Merkmale der Bäder, die aufgrund ihrer externen Lage im Baseler Umland einen ''temporär begrenzten Möglichkeitsraum'' (40) bildeten, also einen auch imaginierten Ort (14, 117): das Fluide des frühneuzeitlichen Körpers, die Bäder als contact zones (44). Nicht nur durch die Vorstellung eines Körpers, dessen (interne) Flüssigkeiten mit externen in Beziehung standen (47), ermöglichte der Besuch von Bädern einen vereinfachten Kontakt unterschiedlicher Personen (103-113). Nachvollziehbar stellt Schober dar, wie zudem etwa Badgeschenke den gesellschaftlichen Austausch ermöglichten und dieser den Medizinern die Möglichkeit des Werbens um lukrative Patienten bot. Insbesondere jedoch konnten auf die Stadt Basel bezogene gesellschaftliche Verflechtungen im Angesicht von Grenzüberschreitungen situativ entspannter anberaumt und vertieft werden und bildeten derart Anlass, Exzess und Ordnung zu verzahnen, anstatt, wie vielleicht zu vermuten wäre, Regularien meistenteils zu umgehen (117-119).

Dass Bäder dafür keine Ausnahmeräume waren, belegt die Autorin mit dem nachfolgenden Kapitel: ''Gestalten und Eindringen - Das Haus'' (121-204). Im ''Haus mit seinen zahlreichen physischen und imaginierten Schwellensituationen waren Grenzüberschreitungen nämlich besonders wichtig und gleichzeitig verhandelbar'' (203) resümiert Schober ihre Analyse, nachdem sie darlegte, wie häusliche Schwellen insbesondere dann übertreten werden konnten, wenn die Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Community dies ermöglichte (122, 203). Mithin erlaubte diese Zugehörigkeit exzessive Handlungsweisen, bei denen sowohl Grenzen ausgetestet als auch neue Ordnungsstrukturen definiert wurden, etwa wenn geheime Dissertationen stattfanden (166) oder im Haus gemeinsam gefeiert oder gearbeitet wurde. Zu den sichtbaren Zeichen gehörte der zur Schau gestellte Luxus durch die teils exzessive Gestaltung von Hausfassaden, die Tugenden und Ordnung zwar thematisierten, aber - so zeigt Schober aufmerksam auf - durch ihre Kostspieligkeit konterkarierten. Ihre Anbringung war nicht ohne Billigung durch den Rat denkbar, womit nicht nur die Fassaden, sondern auch Ordnungsprozesse sichtbar wurden (123, 156 f.). Das Eindringen und das Gestalten sind bei Schober potentiell exzessive Prozesse, deren Bedeutung für soziale Prozesse in der Aushandlung der Grenzüberschreitungen wirksam wurde.

Zunächst weniger augenfällig auf soziale Prozesse führend, leitet Schober das dritte thematische Kapitel - ''Gesellschaft schreiben - Der Text'' (205-276) - mit dem Informationsüberfluss durch die exzessive Quantität von Drucktexten ein. Sie beschäftigt sich dann ausführlich mit der Ausdrucksvielfalt und den Inhalten der Texte in zum Beispiel Handlungsanweisungen bei Erbrechen, Trunksucht oder für den Sex in der Ehe. (205, 273) Soziales Handeln entstand in und mit Texten, was die Autorin anhand der Kategorien Bewerten, Beschämen und Beeindrucken von - nicht zuletzt - Medizinerkollegen plausibel machen kann. Auch hier schließt Schober dankenswerterweise andere Funktionen ihres Untersuchungsgegenstandes nicht aus. Auch die Texte dienten den Medizinern dazu, Netzwerke auszubauen (274 f.), was die oben genannten oft exklusiven Vergesellschaftungsfunktionen durch das Austesten von Grenzen nicht einschränkte.

Im letzten thematischen Kapitel (''Die Ordnung des Körpers - Die Anatomie'' (277-370)) führt die Autorin die bisherigen Konzepte wirkmächtig zusammen und bezeichnet die Anatomie folgerichtig als "Brennglas" (369) für die soziale Produktivität des Exzesses. Mit der Analyse von Zechgelagen beim Leichenraub (292), der Regeln und Sinnesreize des exklusiven Events (331) oder der Angst der Zeitgenossen vor Vivisektionen (293 f.) zeigt Schober anschaulich, dass die Anatomie so grenzwertig wie konventionell war und dass über diesen Exzess Ordnungsangebote auf verschiedenen Ebenen vermittelt wurden, die eng mit dem Körper verbunden waren (373). Baseler Mediziner warben mit stets abrufbarer Expertise, hielten Distanz auch beim Beschreiben von Exzess und Ekel und führten mit ihrer Deutungsmacht etwa zum körperlichen Geschlecht (328) gesellschaftliche Veränderungen bis zu neuen Ordnungsstrukturen herbei.

Während die Komplexität des Exzesses und welche Unbotmäßigkeiten er im Einzelnen umfasst in Schobers Analyse nicht immer flugs deutlich werden, überzeugt ihr Ansatz, Verhandlungen sozialer Grenzziehungen und ihre Funktion für das Ordnen der frühneuzeitlichen Stadt zu betrachten, durchaus. Zudem ist ihre Arbeit ein reicher Fundus an Wissen über die Medizin um 1600 und seltener analysierter städtischer Inklusionsprozesse und Hierarchien. Die Verfasserin erhebt keinen Anspruch darauf, nur anhand des Exzesses zu beschreiben, wie Stadtgesellschaften funktionierten. Sie hebt aber die scheinbare Dichotomie zwischen Exzess und Ordnung plausibel auf und ist auch in ihren Annahmen für spätere Jahrhunderte glaubhaft, die den Exzess als "übergreifende heuristische Kraft" (376) vermuten lassen.


Anmerkung:

[1] Anders bspw. Alexander Lee: The Ugly Renaissance. Sex, Greed, Violence and Depravity in an Age of Beauty, New York 2014, mit Analyse gesellschaftlicher Funktionen des Ekels; Douglas Biow: In Your Face. Professional Improprieties and the Art of Being Conspicious in Sixteenth-Century Italy, Stanford 2009.

Tatjana Niemsch