Rezension über:

Laura Andreani / Agostino Paravicini Bagliani (a cura di): Miracolo! Emozione, spettacolo e potere nella storia dei secoli XIII-XVII (= mediEVI; 21), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2019, XVI + 361 S., 20 Farbabb., ISBN 978-88-8450-927-7, EUR 58,00
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Rezension von:
Andreas Kistner
Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Kistner: Rezension von: Laura Andreani / Agostino Paravicini Bagliani (a cura di): Miracolo! Emozione, spettacolo e potere nella storia dei secoli XIII-XVII, Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 9 [15.09.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/09/33855.html


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Laura Andreani / Agostino Paravicini Bagliani (a cura di): Miracolo!

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Der anzuzeigende Band umfasst 17 eher kurze Aufsätze, von denen zwei französisch, die übrigen italienisch gehalten sind. Agostino Paravicini Bagliani stellt in der Einleitung die einzelnen Beiträge kurz vor; eine inhaltliche Gliederung wird aber im Inhaltsverzeichnis nicht eingeführt. Einzelne Gruppen von Aufsätzen lassen sich durchaus ausmachen: Einige haben die Stellung des Papsttums gegenüber dem Wunder zum Gegenstand, andere greifen die Sensorik des Wunders, zumeist des Wunder wirkenden Heiligen auf; die politische Nutzbarkeit von Wundern in Welt oder Orden wird gleichfalls thematisiert wie auch die Einbeziehung von im weitesten Sinne medizinischem Personal bei der Untersuchung der Wunder. Somit ist gemäß der Grundausrichtung der Reihe ein bunter Strauß an Zugangsweisen versammelt; dementsprechend gibt es kein die Ergebnisse zusammenführendes Résumé. Daher können auch hier nur ein paar Schwerpunkte gelegt werden.

Jeder Aufsatz wird von Kontaktdaten der Autor*innen und einer englischen Kurzzusammenfassung mit englischer Variante des Aufsatztitels begleitet. Ein Personen- und Ortsindex beschließt den Band. Da Wunder zumeist mit Heiligen zusammenhängen, ist der Band gewissermaßen eine verhüllte Festschrift für André Vauchez, dessen Lebenswerk, v. a. seine berühmte Thèse, vielfach zitiert wird. [1]

Den Beginn macht jedoch G. Cremascoli (3-17), der auf die Lexikographie des Früh- und Hochmittelalters eingeht, wobei er als Wasserscheide das Catholicon des Johannes Balbus aus Genua betrachtet. Vor Johannes habe es eine « terminologische Unbeständigkeit » (4) gegeben, die wortkundliche 'Forschung' sei mehr damit befasst gewesen, die Ableitungen der Worte zu bedenken, als eine Definition vorzunehmen. Einen zentralen Stellenwert hatte ab Johannes Balbus die Natur: Ist das Wunder natürlich, aber ungewohnt? Oder aber ist es wider die Natur? Die genaue Interpretation des Wunders in Relation zur Natur wird in mehreren Aufsätzen wieder zumindest am Rande aufgegriffen, was zutrifft für: A. Sannino (Ammirare, conoscere ed imitare? Il miracoloso, il mirabile e il mirifico in Guglielmo d'Alvernia, 57-74), M. Montesano (Sesso, identità di genere e miracoli, 117-131), F. P. de Ceglia (Santi, criminali e qualche vampiro. Il miracoloso e la ridefinizione dei limiti della natura nell'Europa di prima età moderna, 133-156).

A. Vauchez schöpft bei seiner Erörterung der Haltung der Päpste zum Wunder als Kriterium der Heiligkeit in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (19-29) vielfach aus seinen eigenen Schriften. Er demonstriert dabei, wie sich nach einem sehr an Wundern orientierten Heiligenverständnis des Frühmittelalters gerade an der Kurie eine Umwertung zu Gunsten der vorbildlichen Lebensführung vollzog, was hin und wieder zu Missverständnissen mit den Antragstellern von Kanonisationen in den partes führte. Trotz der skeptischeren Haltung der Kurie, die zunehmend der Rationalität verpflichtet war, solle man aber nicht von einem Skeptizismus gegenüber übernatürlichen Phänomenen wie im 18. Jahrhundert ausgehen. É. Doublier führt die Ausführungen über das Papsttum weiter, indem er, bezogen auf das 13. Jahrhundert, die päpstliche Dokumentation auf das miraculum und semantisch nahe stehende Begriffe untersucht (31-55). Dabei erkennt er drei Hauptgruppen, nämlich Schreiben, die im Sinne eines Reskriptes die Formulierung eines Bittstellers oder nach Formular mirakulöse Worte eher mechanisch verwenden, eine Gruppe von Dokumenten, die kaum anders kann, als von Wundern zu sprechen, da sie im Zusammenhang mit Heiligsprechungsverfahren entstanden sind, und zuletzt die päpstlichen Stellungnahmen zu Wundern (33). Der Schwerpunkt liegt dann auf der zweiten Gruppe.

Einen in der Forschung noch relativ wenig behandelten Bereich betreffen die Beiträge, die die - im Wortsinne verstandene - Ästhetik des Wunders behandeln. Schon länger bekannt, wenn auch schon lange nicht mehr gründlich bearbeitet, ist der süße Duft des heiligen Leichnams, dem sich M. Roch (Il miracolo nell'alto Medioevo. Il caso dell'odore soave dei santi, tra testi e contesti, 99-116) widmet. Dabei legt er das Augenmerk nicht auf den vermeintlichen Geruch der Reliquien selbst, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedentlich getan wurde, sondern auf die narrative Rolle, die der Geruch in der Hagiographie des 5. bis 9. Jahrhunderts eingenommen hat.

F. Santi (Il tatto come strumento di conoscenza del corpo nell'agiografia del secolo XIII, 193-205) behandelt dieselbe Quellengattung, aber einen anderen Sinn: Im 13. Jahrhundert bekommt der Tastsinn eine besonders große Bedeutung, was wohl nicht zuletzt mit der Abwehr besonders vergeistigter Häresien zusammen hing. Die sinnliche Erfahrung des Wunders durch den Heiligen selbst und die Möglichkeit der Umstehenden, ein Wunder sinnlich wahrzunehmen, behandelt G. Klaniczay (Estasi e stigmatizzazione: il miracolo vissuto e presentato, 157-172): Die Echtheit des Wunders konnte ebenso durch die Sichtbarkeit wie auch die Unsichtbarkeit der Stigmata bewiesen werden.

Angesichts der Breite der behandelten Themen und Zeiträume stellt sich die Frage nach der Zielgruppe, denn die meisten Leser*innen werden vermutlich nur einzelne Beiträge konsultieren, was aber eigentlich schade ist: Bei der Lektüre des ganzen Bandes findet sich ein Panorama unterschiedlicher, auch völlig konträrer Interpretationen von 'Wundern' und man erkennt die Berührungspunkte der Beiträge. Der geringe Umfang der einzelnen Artikel mag zwar die eigentliche Lektüre verkürzen, zwingt die Autor*innen aber dazu, entweder einen sehr pointierten Zugang zu wählen, einen kleinen Sachverhalt zu präsentieren oder in eher großen Linien vorzugehen; die einzige Ausnahme ist der letzte Beitrag (E. Colombo, Miracoli di Francesco Saverio, 301-331), der einigermaßen umfangreich die Wunder des jesuitischen Missionars Franz Xaver beleuchtet und als einziger in größerem Maße beigegebene Bildquellen benutzt.


Anmerkung:

[1] André Vauchez : La sainteté en occident aux derniers siècles du Moyen Âge. D'après le procès de canonisation et les documents hagiographiques (Bibliothèque de l'École française d'Athènes et de Rome, 241), Rome 1981.

Andreas Kistner