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Katharina Steidl: Am Rande der Fotografie. Eine Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 2019, 405 S., ISBN 978-3-11-056780-9 , EUR 79,95
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Rezension von:
Olaf Kistenmacher
Hamburg
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Olaf Kistenmacher: Rezension von: Katharina Steidl: Am Rande der Fotografie. Eine Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10 [15.10.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/10/34698.html


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Katharina Steidl: Am Rande der Fotografie

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In der herrschenden Erzählung über die Entwicklung der Fotografie kommt das Fotogramm lediglich als notwendiges Zwischenstadium vor: Bevor die Väter der modernen Fotografie im 19. Jahrhundert die technischen Möglichkeiten fanden, um mit einer Kamera Negative zu belichten, habe einer von ihnen, William Henry Fox Talbot, zum Test Gegenstände direkt auf lichtempfindliches Papier gelegt und das Ganze der Sonne ausgesetzt. Anfang der 1920er Jahre seien es wieder Männer gewesen - Christian Schad, László Moholy-Nagy und Man Ray -, die den künstlerischen Wert dieses mittlerweile fast vergessenen Verfahrens erkannt haben. Seitdem ist das Fotogramm, die Fotografie ohne Kamera, aus dem Repertoire der modernen Kunst nicht mehr wegzudenken, im 20. Jahrhundert geprägt von El Lissitzky, Berenice Abbott oder Floris Neusüss. Abbott nutzte das Verfahren zur Darstellung physikalischer Prozesse; ihre Wissenschaftsfotografien, heißt es im Katalog zu der Kölner Ausstellung Berenice Abbott - Portraits der Moderne, seien ihr "herausragender Beitrag" zur Fotografie. [1]

Gegen die dominante Erzählung von der Fotografie als einem von Männern erfundenen und geprägten Medium regt sich seit Jahren Widerspruch. Lucia Moholy, Anfang der 1920er Jahre Lászlós Lebensgefährtin, erinnert in ihrer Autobiografie daran, dass sie an vielen Werken ihres Mannes beteiligt gewesen sei: "Für unsere ersten Photogramm-Versuche benutzten wir Auskopier- oder Taglichtpapier, die es uns erlaubten, jede Phase des Bildes während des Entstehungsprozesses zu beobachten." [2] Sie war gleichwohl nicht die erste Frau, die dieses Verfahren nutzte. Fast 80 Jahre zuvor hatte die Britin Anna Atkins alle ihr verfügbaren Algenarten auf Blaudruckpapier gelegt und deren Umrissbilder unter dem Titel British Algae: Cyanotype Impressions veröffentlicht. Atkins' in Serie herausgegebenes Werk war die "erste vollständig fotografisch (genau genommen: fotogrammatisch) produzierte Eigenpublikation" in der Geschichte, erschienen ab 1843, und damit ein Jahr bevor Talbot mit seinem Fotografienbuch The Pencil of Nature an die Öffentlichkeit getreten ist. Zu zeigen, warum die Bedeutung von Frauen nicht anerkannt wird und inwiefern das mit der verdrängten Geschichte des Fotogramms zusammenhängt, ist das Anliegen von Katharina Steidls Studie Am Rande der Fotografie. Talbot wusste im Übrigen von Atkins' Fotogrammen; in einem Zeitungsartikel erwähnte er sie 1864 mit den bezeichnenden Worten: "a lady, some years ago, photographed the entire series of British sea-weeds".

Das Faszinierende bei der Fotografie ist nicht unbedingt die Kamera, sondern dass die Bilder scheinbar von selbst entstehen. Schon Talbot schrieb in The Pencil of Nature, bei den "photogenic drawings" sei es das Sonnenlicht, das zeichne, nicht der Mensch.

Die Fotogrammtechnik mussten also in den 1920er Jahren keine Künstler "wiederentdecken". Sie war nie verschwunden. Gerade zu einer Zeit, als Kameras für eine breitere Öffentlichkeit noch nicht erschwinglich waren, nutzten viele die kameralose Fotografie. Entsprechend waren Anleitungsbücher im Umlauf. Schon im Jahr 1839, dem Jahr, als das fotografische Verfahren patentiert wurde, erklärte der Ratgeber Vollständige Anweisung zur Verfertigung Daguerre'scher Lichtbilder, wie man mit und ohne Kamera fotografiert, und 1920 - zu der Zeit, als Schad und Moholy-Nagy mit ihren Experimenten begannen - erschien in Deutschland das Buch Photographie ohne Kamera. Frauen waren seit dem 19. Jahrhundert oft die Adressatinnen solcher Anleitungsbücher, aber sie galten nicht als innovative Gestalterinnen.

Dass die ersten Motive von Fotogrammen Pflanzen, Spitzenmuster und Federn waren, bekräftigte die Vorstellung eines Zeitvertreibs für junge Damen. Warum jedoch ein Fotogramm eines William Henry Fox Talbot faszinierend sein soll, während ein Werk von Anna Atkins oder Julia Margaret Cameron "nur" eine Reproduktion sein sollen, bleibt letztlich und notwendigerweise unerklärbar. Denn wie die Geschichte, die Steidl rekonstruiert, deutlich macht, waren bereits im 19. Jahrhundert die Bewertungen der fotografischen Werke von sexistischen Vorstellungen über den allein künstlerisch-gestaltenden Mann und die lediglich reproduzierende Frau geprägt.

Dass das Fotogramm im Laufe der Zeit von der Fotografie mit Kamera verdrängt wurde, könnte man damit erklären, dass die Wiedergabemöglichkeiten des kameralosen Verfahrens beschränkt bleiben. Liest man die großen Fotografietheorien von Susan Sontag (Über Fotografie, 1977) oder Roland Barthes (Die helle Kammer, 1980), ist das, was am meisten fasziniert, berührt oder auch unheimlich ist, die Wiedergabe des menschlichen Antlitzes. Am Porträt scheinen Fotogramme aber zu scheitern. Zwar hat László Moholy-Nagy 1922 versucht, sich selbst im Fotogramm darzustellen, aber auf Selbstporträt im Profil ist er kaum zu erkennen. [3] Floris Neusüss hat Anfang der 1960er Jahre ohne Kamera Menschen abgelichtet, indem er seine Modelle bat, sich auf Fotopapier zu legen. [4] Dass er bei diesem Verfahren eine Vorgängerin hat, die heute kaum noch bekannt ist, passt wiederum zu Steidls These: Die fast vergessene Susan Weil machte mit dem weltberühmten Maler Robert Rauschenberg Anfang der 1950er Jahre ganz ähnliche Fotogramme von menschlichen Silhouetten. [5]

Katharina Steidls Am Rande der Fotografie ist insofern die Studie zur richtigen Zeit, weil sie nicht nur die von Männern dominierte Erzählung über die Entstehung der Fotografie korrigiert, sondern mit dem Fotogramm ein Aspekt des Mediums Fotografie heraushebt, das bislang ebenso ein Schattendasein führt wie die vielen, oftmals anonym gebliebenen Fotografinnen. Es ist beeindruckend, wie aufklärerisch die Beschäftigung mit so einem kleinen Stück belichtetem Papier sein kann.


Anmerkungen:

[1] Gary Van Zante: The Image of Physics, in: Berenice Abbott: Portraits of Modernity, Madrid 2019, 33-45, hier 33.

[2] Lucia Moholy: Marginalien zu Moholy-Nagy. Dokumentarische Ungereimtheiten, Krefeld 1972, 17.

[3] László Moholy-Nagy: Selbstporträt im Profil, Fotogramm, 1922, in: Jeannine Fiedler: László Moholy-Nagy, Berlin 2001, 16/17.

[4] Siehe Martin Barnes: Shadow Catchers. Camera-Less Photography, London / New York 2012, 2., erweiterte Auflage, 32-41.

[5] Robert Rauschenberg / Susan Weil: Female Figure, 1950, in: Catherine Craft: Robert Rauschenberg, London/New York 2013, 13.

Olaf Kistenmacher