Rezension über:

Ulrich Chaussy: Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen. Wie Rechtsterrorismus und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden, 3., akt. u. erw. Aufl., Berlin: Ch. Links Verlag 2020, 359 S., ISBN 978-3-96289-100-8, EUR 20,00
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Rezension von:
Paul Räuber
Universität Rostock
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Paul Räuber: Rezension von: Ulrich Chaussy: Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen. Wie Rechtsterrorismus und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden, 3., akt. u. erw. Aufl., Berlin: Ch. Links Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/34816.html


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Ulrich Chaussy: Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen

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Der Mythos vom Einzeltäter hält sich hartnäckig und wird oft dann bemüht, wenn Neonazis bedrohen, morden, sich bewaffnen. In der Neuauflage seines Sachbuchs zum Anschlag auf das Oktoberfest 1980 schreibt der Münchner Journalist Ulrich Chaussy gegen diesen Mythos an. Er ist sich sicher: "Der Typus des Einzeltäters wurde [...] bei den Ermittlungen zum Oktoberfest-Attentat wie ein Golem aus Aktenpappmasche geformt, mit Vulgärpsychologie verkleistert und auf die Terrorbühne gestellt." (11)

Es gelingt dem Autor, was angesichts der systematischen Entpolitisierung des Täters und zahlloser abgeschnittener Spuren so schwer scheint: Er trennt gesichertes Wissen von der Spekulation. Auf Grundlage seiner zentralen Methode des Zweifels weist er dabei Verschwörungshypothesen entschieden zurück, ohne den Anspruch auf Wahrheit aufzugeben.

Mit den nun vorliegenden 352 Seiten ist Chaussys Bericht über seine Recherchen gewachsen - habe wie ein Baum an Jahresringen zugelegt, so der Autor im Epilog. Das Buch umfasst nun auch eine ausführliche Analyse des Doppelmordes an Shlomo Lewin und Frida Poeschke 1980 in Erlangen. Der Journalist erweitert also seinen Blick auf dieses Jahr des rechten Terrors, das zuletzt verstärkt Beachtung in der Geschichtswissenschaft gefunden hat. Was vor fast 40 Jahren als investigativer Journalismus begann, ist somit auch ein umfassender Beitrag zur zeithistorischen Erforschung der extremen Rechten geworden.

Den Kern des Buches bildet nach wie vor die Arbeit, die Chaussy 1983 aufnahm. Kurz zuvor war der Generalbundesanwalt zu einem schnellen Ergebnis seiner Ermittlungen gekommen. Der 21-jährige Gundolf Köhler habe die Bombe am Eingang des Oktoberfestes alleine gelegt. Demnach sei der schwerste Terroranschlag in der bundesrepublikanischen Geschichte eine Art erweiterter Suizid gewesen. Bald sticht ein Informant Chaussy Ermittlungsakten durch; sein Zweifel ist geweckt.

In den kurzen Kapiteln der kaum veränderten Erstveröffentlichung verwebt der Autor unterschiedliche Akteure und zeitliche Ebenen zu einer stimmigen Erzählung. An deren Ende ist das Bild vom Einzeltäter vollständig demontiert, auch wenn die Leserschaft auf eine "schlüssige Gegentheorie" (201) verzichten muss. Verschiedene Zeuginnen und Zeugen hatten Köhler im Kreise weiterer Männer am Tatort gesehen. In langen Interviewsequenzen berichten die Opfer ebenfalls, was nach der Bombe geschah, als finanzielle Hilfe ausblieb und der Anschlag in Vergessenheit geriet. Auf der anderen Seite steht die Analyse des Täters und seines rechtsterroristischen Werdegangs. In den Stationen von der Wiking-Jugend bis zu Karl-Heinz Hoffmanns Wehrsportgruppe werden nicht nur die rechten Netzwerke deutlich, in denen sich Köhler bewegte, sondern auch sein ausgeprägter Hang zu Sprengstoff.

Als Erklärung dafür, warum man nur kurz in diese Richtung ermittelte, verweist der Münchner Journalist auf den größeren politischen Rahmen. Noch in der Tatnacht hatte der Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß behauptet, es handele sich um linken Terror, nachdem er über Jahre militante Neonazis hatte gewähren lassen. In dieser brisanten Situation, kurz vor der Bundestagswahl, sei es auch politisch opportun gewesen, aus Köhler einen Einzeltäter zu machen.

Chaussys Arbeit zeigt, dass ein ausgezeichneter Text schon vor 35 Jahren das vermochte, was die historische Forschung in diesem Feld aktuell diskutiert. Ganz offensichtlich ist es nicht nur möglich, die extreme Rechte akteursorientiert zu beschreiben und in ihre Zeit einzuordnen, sondern auch der Betroffenenperspektive Platz einzuräumen.

Hier schließen die Überlegungen der späteren Auflage an, die die bisherigen Erkenntnisse immer wieder auf der Suche nach weiteren Hinweisen umkreisen. Dazu gehört auch der nun erweiterte Exkurs über das Attentat in Erlangen. Am Abend des 19. Dezembers 1980 verschaffte sich der Täter Zugang zu einer Villa in der Ebrardstraße. Dort ermordete er den jüdischen Verleger Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke mit einer Maschinenpistole. Der Schütze, Burschenschafter und Hoffmanns rechte Hand Uwe Behrendt, galt am Ende wiederum als Einzeltäter.

Daran zweifelt Chaussy. Die deutlichste Verbindung zur Münchner Bombe sei weder das Ermittlungsergebnis noch das Umfeld des Täters, sondern dessen Motiv. Um von seiner möglichen Beteiligung beim Anschlag auf das Oktoberfest abzulenken, habe Karl-Heinz Hoffmann ein antisemitisches Gerücht in die Welt gesetzt. Ihm zufolge habe der israelische Geheimdienst Mossad die Tat verübt, um sie Hoffmann selbst anzuhängen. Sein engster Mitstreiter habe auf diese Propaganda Taten folgen lassen und aus Rache für die vermeintliche Verschwörung stellvertretend Lewin und Poeschke ermordet. Auch wenn man Hoffmann also nicht den direkten Befehl zum Mord nachweisen könne, schlussfolgert Chaussy, treffe ihn dennoch eine Mitschuld.

Auf diese Weise fördert der Autor die antisemitischen Gründe für das Attentat zu Tage. Er kritisiert aber auch die Ermittlungen, die sich lange Zeit auf die jüdische Gemeinde Erlangens konzentrierten. Besonders verurteilt er jedoch die mediale Berichterstattung, die sich in lustvollen Gedankenexperimenten erging, ob das Opfer nicht doch ein Agent des Mossad gewesen sei. Deutlich zieht Chaussy Parallelen zu den strukturellen Fehlern bei der Aufklärung der Taten des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU). So kommt der Autor zumindest ansatzweise dem nach, was der Untertitel seines Buches verspricht: zu klären, wie Rechtsterrorismus und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden.

Bedauerlicherweise fehlen Bezüge zur Geschichte der extremen Rechten und ihrer erinnerungskulturellen Dimension. Dies tut der Bedeutung von Chaussys Arbeit aber keinen Abbruch, wirkt sie doch vor allem als exemplarische Tiefenbohrung. Ohnehin ist auch die Neuauflage des Buches an sich ein Ausdruck des Erinnerns. Es ist besonders in den Passagen stark, in denen das Mordopfer Shlomo Lewin in seinem antifaschistischen Engagement gewürdigt wird. Wenn der Autor Lewin sagen lässt: "Wir haben das Fürchten verlernt, wir wollen mit in der vordersten Reihe gehen, um denen, die die Juden zu Millionen vernichtet haben, die Wahrheit ins Gesicht zu schreien", (270) dann ist es diesen Neonazis zumindest nicht gelungen, ihr Opfer für immer verstummen zu lassen. Hier wiegt es umso schwerer, dass das zweite Opfer Frida Poeschke, wie in so vielen anderen Texten über das Attentat, wenig Aufmerksamkeit erfährt und stets nur als die Lebensgefährtin auftritt.

Ulrich Chaussys Buch über den Anschlag auf das Münchner Oktoberfest ist wichtig und wird seinem Ruf als Standardwerk gerecht. Da es im Vergleich zur zweiten Auflage kaum neue Informationen enthält, ist es für alle, die Chaussys Veröffentlichungen bereits kennen, aber keine Pflichtlektüre. Nachdem die Bundesanwaltschaft im Jahr 2020 lediglich den politischen Hintergrund der Tat einräumte, scheint eine weitere Auflage des Buches unabdingbar. Chaussy formuliert dazu selbst: "[W]enn die Justiz im zweiten Anlauf zu einer auch selbstkritischen Aufarbeitung des Oktoberfest-Attentats nicht in der Lage ist, dann sollte die Stunde der Politik schlagen"; (347) zugleich fordert er einen Erforschungs- und Erinnerungsort. Ein erster Schritt zu einem solchen Archiv wäre eine Ausgabe, die auf edierte Quellen verweisen kann und mit einem Fußnotenapparat arbeitet. Sie wäre ein unschätzbarer Gewinn für die zukünftige Forschung zum Jahr des rechten Terrors in der Bundesrepublik.

Paul Räuber