Rezension über:

Daniela Schulte: Die zerstörte Stadt. Katastrophen in den schweizerischen Bildchroniken des 15. und 16. Jahrhunderts (= Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen; Bd. 41), Zürich: Chronos Verlag 2020, 248 S., 41 s/w-Abb., ISBN 978-3-0340-1436-6, EUR 48,00
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Rezension von:
Christian Rohr
Historisches Institut, Universität Bern
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Christian Rohr: Rezension von: Daniela Schulte: Die zerstörte Stadt. Katastrophen in den schweizerischen Bildchroniken des 15. und 16. Jahrhunderts, Zürich: Chronos Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/34723.html


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Daniela Schulte: Die zerstörte Stadt

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Die historische Katastrophenforschung erlebt seit rund 20 Jahren einen regelrechten Boom. Schon allein aufgrund der Quellenlage konzentriert sich dabei ein überwiegender Teil auf die Neuzeit, wohingegen für die Antike und das Mittelalter immer noch Aufholbedarf besteht. Zusätzliche Potenziale ergeben sich für diese Epochen insbesondere durch ein interdisziplinäres Zusammenwirken mit der Archäologie, Bauforschung und - zumindest für das ausgehende Mittelalter - mit der Bildwissenschaft. Der Lebensraum Stadt, der im späteren Mittelalter zu einer deutlichen Verdichtung des Lebensraums führte, war solchen Katastrophen in einem besonderen Ausmaß ausgesetzt, ob durch geotektonische Extremereignisse wie Erdbeben, klima- und witterungsbedingte wie Hochwasser oder vorwiegend anthropogen (mit)verursachte wie Großbrände. [1] Einzelne Großereignisse wie das verheerende Erdbeben im Raum Basel von 1356 erfuhren dabei eine besondere Beachtung, nicht zuletzt verbunden mit runden Jubiläen. [2]

Daniela Schulte reiht sich mit ihrer im Rahmen des Forschungsschwerpunkts "Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen. Historische Perspektiven" verfassten und 2017 an der Universität Zürich approbierten Dissertation in diesen Forschungskontext ein. Sie widmet sich dabei einem Quellenkorpus, das gemeinhin als "Schweizer(ische) Bilderchroniken" zusammengefasst wird. Sie analysiert dabei aber aus pragmatischen Gründen nicht alle verfügbaren Bilderchroniken, sondern nur diejenigen, die besonders viele bildliche Darstellungen zu Katastrophen aufweisen. Dazu zählen insbesondere die Hauptvertreter der Berner Chronistik, Ben(e)dicht Tschachtlan (ca. 1420-1493), Heinrich Dittlinger (ca. 1440-1479) und Diebold Schilling der Ältere (ca. 1445-1486), weiter eine Generation später Diebold Schilling der Jüngere (ca. 1460-1515) mit seiner Luzerner Chronik und Werner Schodoler (1490-1541) sowie schließlich die auch gedruckten Chroniken von Johannes Stumpf (1500-1577/78), Christian Wurstisen (1544-1588) und Christoph Silberysen (1541-1608). Diese in der Regel im Auftrag städtischer Obrigkeiten entstandenen und einem repräsentativ-legitimistischen Ziel dienenden umfassenden Werke waren, wie der Name schon sagt, reichhaltig illustriert und konzentrierten sich vorrangig auf Ereignisse, die für die Stadt eine direkte oder indirekte Relevanz hatten. Sie wurden hinsichtlich ihrer Funktionalität in den letzten Jahren insbesondere durch Regula Schmid ausgiebig gewürdigt. [3] Die bildlichen Darstellungen hingegen wurden in der älteren Forschung, etwa zur Alltagsgeschichte des Spätmittelalters, vornehmlich als umfangreiches und aussagekräftiges Bildarchiv zur Illustration herangezogen. [4]

Schulte möchte mit ihrer Arbeit am Beispiel von Katastrophendarstellungen in Wort und Bild zu einem besseren Verständnis von Medialität sowie der Funktionen von Geschichtsvermittlung beitragen. Dabei sollen die Möglichkeiten der Geschichtsschreibung ausgelotet werden, "über verschiedene Sinnerzählungen Historizität herzustellen". Sie fragt insbesondere, "wann Zerstörungsereignisse als berichtenswert eingestuft und wie von diesen berichtet wurde", konkret, auf welche Weise sie als Katastrophenereignisse konstruiert wurden (19). Sie konzentriert sich dabei auf Stadtbrände, Erdbeben, Hochwasserereignisse sowie Hagelunwetter und beleuchtet kriegerisch bedingte Stadtzerstörungen nur subsidiär. Andere Extremsituationen wie Pest, Dürre oder Hungersnöte klammert sie bewusst aus.

Als Einstieg und Aufhänger dient Schulte die Darstellung des gut erforschten Erdbebens von Basel 1356 in der knapp 200 Jahre nach dem Ereignis entstandenen Eidgenössischen Chronik von Johannes Stumpf. Danach folgt eine für eine Dissertation äußerst kurze Einleitung, in der sie sich zunächst mit dem Begriff und Annäherungen an Katastrophen bzw. Katastrophenhaftigkeit auseinandersetzt, sodann allgemein mit der Vermittlung von Geschichte in der Chronistik des ausgehenden Mittelalters und schließlich mit den Quellen und dem Vorgehen. Es war für den Rezensenten nicht eruierbar, ob die Einleitung schon in der approbierten Dissertationsfassung so kurz gehalten war oder dies auf die bei vielen Verlagen heute leider übliche Leitlinie zurückzuführen ist, die Einleitungskapitel zu universitären Qualifikationsarbeiten radikal zu kürzen. Hier jedenfalls werden die Ausführungen zum Forschungsstand zu einem wenig differenzierenden name dropping, und auch Fragestellung und Methodik werden deutlich zu kurz und insgesamt schwammig umrissen.

Kapitel 2 widmet sich ausführlich der Quellengattung der Bilderchroniken in der Übergangszeit vom handschriftlichen zum gedruckten Buch. Dabei geht es unter anderem um die Konzeption von Text und Bild und die inhaltlichen Verknüpfungen, doch bleiben insbesondere die Ausführungen zur Intermedialität zwischen schriftlicher und bildlicher Darstellung eher an der Oberfläche. Exemplifiziert wird die Tradierung von Katastrophen in den Schweizer Bilderchroniken erneut am Beispiel des Erdbebens von Basel, nun hauptsächlich mit Bezug auf Christian Wurstisen.

Kapitel 3 fokussiert auf die Darstellung von Katastrophen selbst und spricht zunächst Vermittlungsstrategien der Bilderchroniken an, etwa in welcher Form Aufmerksamkeit bei den Lesenden erzeugt werden soll oder welche Rolle der Katastrophenrhetorik zukommt. Recht kurz werden dann die verschiedenen behandelten Katastrophentypen vorgestellt.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Rolle der Stadt während und nach der Katastrophe und ist insgesamt stärker analytisch ausgerichtet. Schulte streicht insbesondere die sinnstiftende Funktion der Bilderchroniken hervor, indem diese von den Vorzeichen bis hin zu Erklärungsmodellen berichten. Dabei fungiert die Stadtgemeinschaft als Sinnbild der Ordnung, vom Katastrophenmanagement während des Ereignisses selbst über kollektive Maßnahmen zur Erlangung von Gottes Gnade bis hin zu Rechtsordnungen für den Wiederaufbau.

Die Studie leistet zweifelsohne einen wichtigen Beitrag zur historischen Katastrophenforschung des 15. und 16. Jahrhunderts und analysiert dabei eine für die Schweizer Geschichte zentrale Quellengattung hinsichtlich Stadtbränden, Erdbeben und Hochwasserereignissen. Leider schöpft Daniela Schulte das Potenzial nicht ganz aus, indem die Bild- und Textanalyse zu wenig miteinander verbunden werden und insgesamt häufig zu deskriptiv bleiben. Zudem wäre es sinnvoll gewesen, hinsichtlich der Rekonstruktion der beschriebenen Ereignisse - und damit auch der Beurteilung der Darstellungsformen in den behandelten Chroniken - stärker die moderne historisch-hydrologische Forschung (etwa von Oliver Wetter) einzubinden. Weiterführende Forschungen zu den Schweizer Bilderchroniken sollten jedenfalls - aufbauend auf Schulte - nicht ausbleiben.


Anmerkungen:

[1] Erstmals in einem größeren Rahmen untersucht im Sammelband Martin Körner (Hg.): Stadtzerstörung und Wiederaufbau / Destruction and Reconstruction of Towns / Destruction et reconstruction des villes, Bd. 1: Zerstörungen durch Erdbeben, Feuer und Wasser / Destruction by Earthquakes, Fire and Water / Destructions par des tremblements de terre, le feu et l'eau, Bern / Stuttgart / Wien 1999. Vgl. zuletzt mit einem betont interdisziplinären Zugang Daniel Schneller / Guido Lassau (Hg.): Erdbeben, Feuer, Wasser und andere Katastrophen. Ihr Einfluss auf die Stadtentwicklung und Stadtgestalt im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Beiträge der Tagung in Basel, 1./2. Februar 2018, Bern 2019, auch online unter https://www.peristyle.ch/publication/10001-erdbeben-feuer-wasser-und-andere-katastrophen.

[2] Vgl. Werner Meyer: Da verfiele Basel überall. Das Basler Erdbeben von 1356. Mit einem geologischen Beitrag von Hans Peter Laubscher (184. Neujahrsblatt der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige, Basel), Basel 2006.

[3] Vgl. insbesondere Regula Schmid: Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter, Zürich 2009; dies.: Schweizer Chroniken. In: Gerhard Wolf / Norbert H. Ott (Hgg.): Handbuch Chroniken des Mittelalters, Berlin / Boston 2016, 267-300.

[4] Vgl. etwa Werner Meyer: Hirsebrei und Hellebarde. Auf den Spuren des mittelalterlichen Lebens in der Schweiz, Olten / Freiburg im Breisgau 21986.

Christian Rohr