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Jan Plamper: Das neue Wir: Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2019, 400 S., ISBN 978-3-10-397283-2, EUR 20,00
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Rezension von:
Olga Sparschuh
Technische Universität München
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Olga Sparschuh: Rezension von: Jan Plamper: Das neue Wir: Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 2 [15.02.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/02/35528.html


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Jan Plamper: Das neue Wir: Warum Migration dazugehört

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Bereits der doppelte Untertitel "Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen" deutet an, dass Jan Plampers für ein breites Publikum geschriebenes Buch auf zwei Arten gelesen werden kann: einerseits als politischer Aufruf für ein neues deutsches Selbstverständnis, andererseits als deutsche Migrationsgeschichte seit 1945. Das Plädoyer wurde vielfach - und kontrovers - in der Presse besprochen und (in der bpb-Ausgabe) an Schulen gelesen [1]. Die "andere Geschichte der Deutschen" dagegen ist mehr als zwei Jahre nach Erscheinen noch nicht in den historischen Fachforen diskutiert worden [2].

Die Anlage und auch der Anspruch, aus der Vergangenheit Orientierung für die Gegenwart zu schöpfen (16), erinnern stark an Klaus J. Bades schmales beigefarbenes Bändchen "Homo Migrans" [3]. Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit im wiedervereinigten Deutschland veranlasste Bade 1994 für einen "gelasseneren, pragmatischen Umgang" mit dem problembesetzten Thema Migration zu werben. Das leuchtgelbe Cover von "Das neue Wir" reflektiert dagegen den Optimismus von Plampers Narrativ. Er nimmt die sogenannte Willkommenskultur, das zivilgesellschaftliche Engagement für syrische Flüchtlinge im Sommer 2015, als Ausgangspunkt, um Einwanderung als "Erfolgsgeschichte" zu erzählen.

Plamper plädiert für "neue Begriffe, Konzepte" für das Deutsche, zu dem selbstverständlich auch migrantische Erfahrungen gehören sollen (11). Unter Rückgriff auf die USA als klassisches Einwanderungsland entwirft er eine neue deutsche Kollektividentität, das "neue Wir", um dem Zusammenleben über die Staatsbürgerschaft hinaus eine emotionale Klammer zu geben (318). Er appelliert an die Politik, Angebote zu machen, statt Forderungen zu stellen (9), und unterbreitet zahlreiche Vorschläge, etwa die Schaffung einer Einbürgerungszeremonie oder die (überfällige) angemessene Darstellung der Migrationsgeschichte in deutschen Museen (322).

Migration, das wird bereits im Vorwort deutlich, ist dem deutschen Historiker und mobilen Deutschen ein persönliches Anliegen. Der langjährige Professor am Goldsmiths College der University of London, inzwischen an der University of Limerick, flicht kontinuierlich eigene biographische Bezüge - die Vertreibung des Vaters, das "Ausländersein" der Tochter - in die Erzählung ein. Das spiegelt die Frage, wer zu dem "neuen Wir" dazugehört - und vervielfacht sie, indem das im Gesprächsstil geschriebene Buch die Leserinnen und Leser kontinuierlich einbezieht.

Aber was leistet das Buch für die Migrationsgeschichte? Zentrales Anliegen ist es, all jene in die titelgebende "andere Geschichte der Deutschen" einzuschreiben, die zuvor in der Bundesrepublik als Ausländer galten. Doch indem Plamper zunächst deutschen Wandernden des 19. Jahrhunderts in die USA und nach Russland folgt, schildert er eindringlich, dass heute diskutierte Probleme wie die Bildung herkunftshomogener Siedlungsknoten und sprachliche Hybridisierungen - in umgekehrter Akteurskonstellation - Konstanten von Migrationserfahrungen sind. Im Hauptteil schlägt er in sieben kurzen Kapiteln den Bogen von den Vertriebenen über die "Gastarbeiter", die Vertragsarbeiter, die Asylbewerber, Aussiedler und Kontingentflüchtlinge bis zur "Willkommenskultur" der Gegenwart. Zwischengeschoben sind Momentaufnahmen der Jahre 1945 und 1989 als Epochenschwellen der Migration: Während nach dem Zweiten Weltkrieg, "Alles [...] in Bewegung" war (65), vervielfachte die Öffnung der Grenzen am Ende des Kalten Krieges Geschwindigkeit und Richtungen der Wanderungen (204).

Der Kunstgriff, die Vertriebenen als "Einwanderungsgruppe" zu sehen (18), erlaubt die Rahmung als Erfolgsgeschichte. Hier zeigen sich Plampers weites Migrationsverständnis und seine Sensibilität für Brüche, die auch mit Binnenwanderungen verbunden sein können. Doch besonders das Kapitel zur Arbeitsmigration lässt Zweifel an der Erfolgsthese aufkommen. Die Teilhabe am deutschen Sozialversicherungssystem (102), die durchaus ein Puzzleteil der Argumentation hätte sein können, diskutiert er nur unter dem Aspekt, dass Rechte zuweilen beschnitten wurden, bevor er pauschal bilanziert, die "Geschichte der Gastarbeit" sei "trotz allem gar nicht so schlecht" gelaufen (125). Klarer konturiert sich das Erfolgsnarrativ anhand der Kontingentflüchtlinge und der Russlanddeutschen. Wenn Deutschland nach dem Holocaust Ziel der Migration aus Osteuropa wurde, sei das eine Leistung, trotz Schwierigkeiten bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen (259).

Das größte Verdienst des Buchs liegt in der Zusammenschau der Migrationen nach Deutschland seit 1945. Statt aber bloß einen Überblick über die verschiedenen Bewegungen zu bieten, stellt Plamper konsequent Einzelschicksale in den Mittelpunkt. Bei der Auswahl der Primärquellen für diese migrantischen Miniaturen unter anderem aus dem Oral History Archiv des Kölner Dokumentationszentrums und Museums für die Migration in Deutschland beweist er eine glückliche Hand. Denn da Migrantinnen und Migranten notorisch wenig Schriftliches hinterließen, leiden viele Studien daran, dass die Handelnden oft stumme Objekte staatlichen Tuns bleiben.

Das Buch zeigt zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen den Bewegungen auf, doch fehlt - wie in der deutschen Migrationsforschung insgesamt - ein echter Vergleich, der den Parallelen auf den Grund geht. Wenn Plamper die "Brauchtumspflege" der Vertriebenenverbände (88) als fortschrittliches Modell im Sinne einer multiplen nationalen Identität wertet, übersieht er, dass heimatliche Folklore auch ein Element der Betreuungsarbeit für Arbeitsmigrantinnen und -migranten war, die Integration in den gemeinsamen Rahmen Europa versprach - und gleichzeitig die Rückkehr in die Herkunftsgebiete offenhielt. Vielleicht ein Gedanke, der auch in Vertriebenenkreisen nicht fremd war?

Plamper tippt die Debatten um Migration und Staatsangehörigkeit mit leichter Hand an und skizziert die Geschichte eines bunter werdenden Deutschlands im 20. Jahrhundert. Sein Buch bietet einen guten Einstieg in die Migrationsthematik, auch wenn die "neue kollektive Identität" wohl eine Utopie bleibt. Gleichzeitig ist es eine Einladung an die deutsche Migrationsforschung, die verschiedenen Wanderungsbewegungen zusammenzudenken, um differenzierte deutsche (Migrations-)Geschichte zu schreiben. Hoffentlich neigt diese weder zu sehr in Richtung Problem- noch Erfolgsgeschichte und nimmt auch die Herausforderung an, die vielen stärker zu beachten, die Plampers Fokus auf das "neue Wir" zwangsläufig ausblendet: Jene, die den Wanderungsversuch abbrachen und in ihre Herkunftsländer zurückkehrten.


Anmerkungen:

[1] Vgl. beispielsweise taz vom 8.6.2019: "Kommen und Bleiben. Vertriebene, Gastarbeiter, Vertragsarbeiter. Der Historiker Jan Plamper erkundet in einer Tour d'Horizon die deutsche Migrationsgeschichte" (Stefan Reinecke); taz.de/!5599543/ [18.01.2022], und Annette Simminger: Für ein "neues Wir". Historiker diskutiert in Schulen über Deutschland als Migrationsgesellschaft, in: Gegen Vergessen - Für Demokratie 105/2020, 34.

[2] Am ehesten Sylke Kirschnick, Wer ist "wir", wer ist "die"? Warum der Historiker Jan Plamper die Migrationsfrage falsch stellt, in: Literaturkritik 21 (2019), Nr. 8; literaturkritik.de/plamper-neue-wir-wer-ist-wir-wer-ist-warum-historiker-jan-plamper-migrationsfrage-falsch-stellt,25894.html [18.01.2021].

[3] Klaus J. Bade: Homo Migrans. Wanderungen aus und nach Deutschland. Erfahrungen und Fragen, Essen 1994, hier 7 und 101.

Olga Sparschuh