Rezension über:

Lena Sebening: Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht. Empirische Erkundung eines tradierten Begriffs, Hannover: Gottfried Wilhelm Leibniz Universität 2019, 327 S., Diss., DOI: https://doi.org/10.15488/10384

Rezension von:
Georg Götz
Universität Vechta
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Georg Götz: Rezension von: Lena Sebening: Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht. Empirische Erkundung eines tradierten Begriffs, Hannover: Gottfried Wilhelm Leibniz Universität 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8 [15.07.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/07/36483.html


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Lena Sebening: Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht

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In ihrer Dissertation widmet sich Lena Sebening dem Gegenwartsbezug als fachdidaktischem Prinzip. Dies ist lobenswert: Jeder, der mit der Betreuung von Praktikanten und Studierenden zu tun hat, begegnet einer Fülle von Forderungen nach 'Gegenwartsbezug' - dieses "Übermaß" beklagte Rolf Schörken bereits vor vierzig Jahren [1].

Sebening möchte "eine empirisch gesättigte Definition des Gegenwartsbezugs" vorlegen. Dafür soll empirisch erfasst werden, welche "Formen von Gegenwartsbezogenheit [...] im alltäglichen Geschichtsunterricht" (5) auftauchen - vor allem auch solche, die von der theoretischen Debatte bislang nicht berücksichtigt wurden (207) - und deren Verhältnis zu den theoretischen den Konzepten und Modellen geklärt werden (145). Sie möchte das fachdidaktische Prinzip 'Gegenwartsbezug' also nicht in erster Linie aus theoretischen Erwägungen ableiten, wie es die Geschichtsdidaktik von Klaus Bergmann bis Thomas Martin Buck bisher getan hat [2], sondern aus der Praxis.

Dafür hat sie zwanzig Unterrichtsstunden in Geschichte und Gesellschaftslehre videografiert, die mittels der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet werden. Dies geschieht in einem umfangreichen empirischen Teil (Kapitel 5-9, 137-267). Diesem vorgeschaltet ist ein theoretischer Teil (Kapitel 3 und 4, 16-136). Die Diskussion der Arbeitsergebnisse (Kapitel 9, 267-295) mündet in eine Definition des Gegenwartsbezugs, die die Arbeit abschließt (Kapitel 10, 295-301).

Im theoretischen Block werden die beiden "Begriffsgiganten" (5) Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein auf ihr Potential an Gegenwartsbezug hin untersucht, anschließend der Gegenwartsbezug als fachdidaktisches Prinzip, schließlich wird die Begriffsgeschichte und Rezeption des Gegenwartsbezugs abgehandelt. Die Kapitel bieten einen konzisen Überblick über die Diskussion zu Unterrichtsprinzipien in der Allgemeinen Didaktik und der Geschichtsdidaktik, beginnend bei Mayer / Pandel [3]. Besonders lobenswert ist dieses Kapitel, weil es den relativen Wildwuchs bei der Definition geschichtsdidaktischer Prinzipien bzw. Leitlinien bzw. Kategorien recht klar benennt. Sowohl die Definition eines solchen Prinzips an sich ist unklar, wie auch die Frage, welche Prinzipien denn jetzt eigentlich zum 'Kanon' gehören. Wie Sebening (61) feststellt, tauchen nur 'Gegenwartsbezug' und 'Multiperspektivität' in allen einschlägigen Prinzipienkatalogen auf.

Im Anschluss fasst sie die Karriere des Begriffs 'Gegenwartsbezug' kompetent zusammen. Letztendlich brachte ein Anstoß von außen - die hessischen Rahmenrichtlinien - die Geschichtsdidaktik zur Auseinandersetzung mit dem Gegenwartsbezug (62-75). Im Laufe der 1970er wurde der Gegenwartsbezug sehr schnell als Grundlage geschichtsdidaktischen Denkens anerkannt. Mit Veröffentlichung des Sammelbandes von Schörken [4] ist der Begriff in der Geschichtsdidaktik etabliert, dies geschieht allerdings meist im Rückgriff auf die "Repräsentationspublikation" (85) von Bergmann [5]. Diese Ausführungen münden in ihre eigene, sehr weite Arbeitsdefinition, die die Autorin benötigt, um überhaupt in ihrem Material nach Gegenwartsbezügen suchen zu können.

Im empirischen Teil stellt die Verfasserin nach einem Forschungsüberblick (Kapitel 6, 137-151) ihre Erhebungsmethode vor (Kapitel 6-8, 152-203), bevor sie das Vorgehen bei der Auswertung und ihre Arbeitsergebnisse diskutiert (Kapitel 9, 204-295). Die aufwendige Video-Beobachtung geschah mittels vier Kameras und der Verfasserin selbst als Beobachterin, die zusätzliche Notizen anfertigte. Die 20 Stunden wurden 2012 für das Forschungsprojekt 'Vielfalt, Identität, Erzählung. Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht an niedersächsischen Schulen' videografiert [6] und zwar in den Schulklassen 5 bis 10 (169). 15 Klassen stammten vom Gymnasium, vier von Integrierten Gesamtschulen und eine von einer Hauptschule. Diese Gymnasiallastigkeit findet auch die Verfasserin selbst unbefriedigend (172).

In den aus den Videos erstellten Transkripten identifiziert Sebening die Stellen, an denen Gegenwartsbezogenheit festgestellt werden kann, und differenziert diese in drei Dimensionen: Einmal nach dem Auslöser des Gegenwartsbezugs, dann nach den Formen, und schließlich nach der Denkrichtung. Als Impulse nennt sie Sachverhalte/Ereignisse, Begriffe, Personen/-gruppen, temporale Einordnungen, Werte und Normen, Lebenswelt (258), die Formen unterteilt sie in Problemaufriss, Erläuterung/Beschreibung, Vergleich, Übersetzungsleistung, Perspektivwechsel sowie Lebensweltbezug (259). Unter "Denkrichtung" (260) versteht sie die gedankliche Bewegung auf einem (imaginären) Zeitstrahl zwischen dem Punkt, an dem ein historischer Denk- bzw. Lernprozess ansetzt, und dem Punkt, auf den er abzielt. Diese Beziehung der Zeitebenen kann unter anderem als Schluss aus einer Vergangenheit auf die Gegenwart wie von der Gegenwart zurück erfolgen; aber auch aus einer vermuteten Zukunft auf die Vergangenheit oder die Gegenwart.

Um ein Ergebnis gleich vorweg zu nehmen: Zukunftsbezüge spielen nach Sebening in der Unterrichtspraxis keine Rolle (268, 290). Auch eine Differenzierung von Lebenswelt-, Gegenwarts-, und Alltagsbezug finde in der Praxis nicht statt (282); in der mangelnden Differenzierung ähneln sich also Theorie und Praxis. Der in der Geschichtsdidaktik oft beworbenen Verwendung der Geschichtskultur (84) zur Herstellung von Gegenwartsbezügen werde im Unterricht ebenfalls kaum nachgegangen (284). Anders sehe es aus mit "Werten und Normen", also der Urteilsbildung: Dies finde sich sehr häufig (289). Oft würden überdies die Bezüge durch Vergleiche und Analogien realisiert und dienten als Übersetzung eines fremden Begriffs oder Sachverhalts. Insgesamt kann Sebening darüber hinaus zeigen, dass die geschichtsdidaktische Theorie zum Gegenwartsbezug im alltäglichen Geschichtsunterricht wiedergefunden werden kann (291), der Graben zwischen Theorie und Praxis also nicht so groß ist, wie manche vermuten.

Am Ende präsentiert Sebening ihre Definition: "Gegenwartsbezüge [...] stellen kommunikative Handlungen von Schülerinnen und Schülern als auch von Lehrkräften dar, die die zeitliche Dimension der Gegenwart [...] in das Unterrichtsgeschehen hineintragen" (299). Diese unterscheidet sich nicht von ihrer anfänglichen Arbeitsdefinition (132), und das ist schade. Um aus dem empirischen Material die Gegenwartsbezüge herauszuarbeiten, musste Sebening eine Definition von Gegenwartsbezug bereits voraussetzen, weil sie Kriterien zur Erfassung dieses Bezugs im Material benötigte. Sie hat sich dann offensichtlich von einer extrem weiten Arbeitsdefinition leiten lassen, die alles zum Gegenwartsbezug "sammelt". Damit hat sie zwar eine Fülle von Beispielen aus dem Material herausarbeiten können, aber auch diese extrem weite Definition als Arbeitsergebnis präjudiziert.

Insgesamt wird die Arbeit aber trotzdem dem Anspruch gerecht, zwischen Theorie und Praxis des Gegenwartsbezugs zu vermitteln. Ein weiterer Pluspunkt ist die konzise Zusammenfassung des Forschungsstandes. Auch für die universitäre Lehre finden sich Anknüpfungspunkte: Sebenings empirische Befunde helfen bei der Einordnung von Schulpraktikumserfahrungen und bei der Planung entsprechender Lehrveranstaltungen. Bereits in ihren theoretischen Ausführungen zeigt sie, dass die Frage, was eigentlich ein geschichtsdidaktisches Prinzip ist, dringend beantwortet werden sollte; eine Kritik, die sie am Ende (300) selbst nochmals aufgreift. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht ist Sebenings Studie ein vielversprechender Anfang, der weitere Forschungen und Debatten anregen kann.


Anmerkungen:

[1] Rolf Schörken: Vorwort. In: Der Gegenwartsbezug der Geschichte. Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung, hg. von dems., Stuttgart 1981, 7-10, hier S. 7.

[2] Klaus Bergmann: Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht. Schwalbach / Ts. 2000; Thomas Martin Buck: Lebenswelt- und Gegenwartsbezug. In: Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts 1, hg. von Michele Barricelli / Martin Lücke, Schwalbach/Ts. 2012, 289-301.

[3] Ulrich Mayer / Hans-Jürgen Pandel: Kategorien der Geschichtsdidaktik und Praxis der Unterrichtsanalyse. Zur empirischen Untersuchung fachspezifischer Kommunikation im historisch-politischen Unterricht. Stuttgart 1976.

[4] Rolf Schörken: Der Gegenwartsbezug der Geschichte. Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung. Stuttgart 1981.

[5] Klaus Bergmann: Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht. Schwalbach / Ts. 2000.

[6] https://www.idd.uni-hannover.de/de/forschung/projekte/projects/vielfalt-identitaet-erzaehlung-interkulturelles-geschichtslernen/ (Zugriff am 6.5.2022).

Georg Götz