Golo Mann hat geschrieben, er glaube nicht an die Theoriebedürftigkeit der Historie, denn sie sei "eine Kunst, die auf Kenntnissen beruht, und weiter ist sie gar nichts". Diese grundfalsche, doch sympathische Aussage kann einem paradoxerweise in den Sinn kommen, wenn man die Sammlung von Aufsätzen des 1998 verstorbenen Robert Scribner aus den Jahren 1989 bis 1994 (plus einem bisher unveröffentlichten Artikel) liest, die Lyndal Roper herausgegeben hat. Denn Scribner besaß als derjenige unter den international renommierten Reformationshistorikern, der sich am weitesten auf das Gebiet der Kulturtheorie, der Anthropologie, der Volkskultur eingelassen hat, doch offenbar ein sehr pragmatisches Verhältnis zu (Groß-)Theorien, die ihm nie mehr waren als ein Werkzeug, mit dem er für den Moment bestimmte faszinierende Konstellationen beschrieb. Kunst dagegen und unerschöpfliche Kenntnisse findet der Leser auf jeder Seite des vorliegenden Buches: die Kunst der "kleinen Form", die Kunst, in einer Mischung aus narrativen und analytischen Elementen, in einem durchgängig hohen Reflexionsniveau und in einem nachdenklichen oder (selbst-)ironischen Tonfall eine plastische Darstellung der "world we have lost" zu erzielen; unerschöpfliche Kenntnisse vor allem deutscher Archive, aber auch zum Beispiel einer unübersehbaren volkskundlichen Literatur zu religiösen Bräuchen.
Thomas A. Brady skizziert in einem Vorwort die Wege und Irrwege der Reformationsforschung: Max Webers Sicht des Protestantismus als Wegbereiter einer entzauberten Welt und eines rationalisierten Kapitalismus ist nur die elaborierteste Version eines auch politisch wirkungsmächtigen, protestantisch-bürgerlichen Selbstbildes. Die Verbindung des Protestantismus mit einem aggressiven Nationalismus führte in Deutschland zu einer Orientierungskrise der Reformationsforschung nach 1945. Es gelang erst Bernd Moellers "Reichsstadt und Reformation", dieser Epoche wieder allgemeinhistorisches Interesse zu sichern. Die Kritik an Moellers allzu harmonistischer Sicht der Stadtgemeinde, die eine "demokratische" Affinität zum reformatorischen Gemeindeprinzip annahm und innerstädtische Auseinandersetzungen minimierte, wurde zum Ausgangspunkt für Scribners eigene Forschung. In immer neuer Auseinandersetzung mit städtischen und ländlichen Beispielfällen strebte er eine Sozialgeschichte des Reformationszeitalters an, die gesellschaftliche Strukturen und individuelles Handeln, politische Macht und individuelle wie kollektive, elitäre wie populäre Deutungsmuster nicht in ein reduktionistisches Verhältnis setzte. Dass diese "Sozialgeschichte" durchaus auch "Kulturgeschichte" heißen darf, zeigt der Titel des Sammelbandes an; dass Großthesen über die universalhistorische Bedeutung der Reformation heute kaum mehr unumstritten durchgehen, ist zu einem beträchtlichen Teil Scribners Verdienst.
Die Aufsätze des Bandes behandeln eine Vielzahl unterschiedlicher Themen, von denen im Folgenden nur wenige Beispiele herausgegriffen werden können. Im ersten Teil, "The Popular", werden die Probleme der Forschung zu populärer Kultur und Religion entfaltet. Scribner beschreibt die Inadäquatheit einer zu radikalen Disjunktion zwischen Eliten- und Volkskultur, will aber diese Unterscheidung in modifizierter Form durchaus beibehalten - geht es ihm doch immer auch um Widerstände, Aneignungsformen und gegenseitige Beeinflussung. Wichtig für weitere Aufsätze des Bandes ist hier die Unterscheidung von "sacramentals" und "magic": Beiden Konzepten liegt die Vorstellung einer intensiven Durchdringung der Welt mit sakralen oder transzendenten Gegenständen und Mächten zu Grunde. Während es aber bei "sacramentals" um kirchlich sanktionierte Praktiken zum Beispiel der Weihung von Orten oder Gegenständen ging, war Magie eine vorwiegend auf innerweltliche Zwecke gerichtete, kirchlich nicht mehr tolerierbare Praxis. Diese Praktiken sind deshalb so wichtig, weil sie durchaus unterschiedliche Verbindungen eingehen konnten, weil beide Teil vorreformatorischer Volksfrömmigkeit waren, und weil keine der beiden durch die Reformation einfach beseitigt wurde.
Die Reformation konnte an Veränderungen innerhalb der spätmittelalterlichen Frömmigkeit anknüpfen, die Scribner exemplarisch an der Veränderung des "religiösen Blicks" festmacht (Abschnitt "Ways of Seeing"). Er zeigt, dass die Vorstellung, man könne durch den Blickkontakt zum Beispiel zu einem Heiligenbild eine direkte Verbindung mit der sakralen Sphäre eingehen, schon im Spätmittelalter kritisiert wurde. Vor allem Darstellungen weiblicher Heiliger verfielen dann der radikalen Kritik der Reformatoren, weil sie sinnliche Gelüste anstachelten, anstatt zur Andacht aufzufordern. Dass Maler wie Cranach dies durchaus zum Anlass nehmen konnten, spielerisch (?) die Grenzen zwischen Heiligenbild und Pornografie zu verwischen, kann Scribner in einem materialreichen Essay über die Darstellung des weiblichen Körpers zeigen.
Der Abschnitt "Power and Community" ist demgegenüber klassischer sozialhistorisch orientiert. In einer Reihe von Studien zu so unterschiedlichen Themen wie nachreformatorischem Antiklerikalismus, täuferischem Frühkommunismus oder der Hexenproblematik analysiert Scribner das komplizierte Zusammenspiel von lokalen Machtkonflikten, dem (häufig erfolglosen) Versuch einer staatlichen Reglementierung von Frömmigkeits- und Sozialformen und immer neu zu aktualisierenden populären Deutungsmustern. Im faszinierendsten Artikel - "Heterodoxy, Literacy and Print in the Early German Reformation" - versucht Scribner unter anderem, ein Generationenmodell auf die Geschichte der Reformation zu übertragen; ein viel versprechender und bisher kaum unternommener Versuch. Nach Scribner waren es nicht (nur) Volkssprachlichkeit und Buchdruck, die Luthers Reformation zu Beginn so erfolgreich machten: Bereits in der Generation vor Luther seien Laienbildung und Volkssprachlichkeit weitgehend akzeptiert gewesen; die frühe Reformation wurde, und dies übersehe man bei aller Polemik gegen "die Gelehrten die Verkehrten" manchmal, vor allem von Absolventen von Lateinschulen und Universitäten getragen. Die Überproduktion von Akademikern um 1500, die nicht hoffen konnten, in der Kirche oder in den entstehenden Territorialstaaten angestellt zu werden, habe zur religiösen Radikalisierung beigetragen, weil eine Vielzahl von jungen Männern herangezogen worden war, die nun ihr Wissen in Macht gegen die etablierten Institutionen ummünzen konnten.
Im letzten Teil über "Protestantism and Magic" macht Scribner deutlich, dass weder ein abgeschwächter "Sakramentalismus" noch magische Praktiken mit der Reformation verschwanden. Scribner wehrt sich aber dagegen, hierin nur "Relikte" mittelalterlichen Aberglaubens zu sehen, sondern postuliert einen "popular Lutheranism", der in der Tat noch weitgehend unerforscht ist. Trotzdem hinterlässt gerade die Lektüre dieses Teils einen - bei aller Faszination - etwas zwiespältigen Eindruck, und dies aus drei Gründen, die hier besonders hervortreten, aber eigentlich den ganzen Band betreffen.
Bei einem Blick auf die gegenwärtige Reformationsforschung muss man erstens ehrlicherweise eingestehen, dass die von Scribner immer wieder kritisierte Auffassung der Reformation als radikale Rationalisierung, als "Entzauberung der Welt" et cetera von kaum jemandem mehr vertreten wird. (Interessanterweise nennt Scribner hier auch fast nie Namen.) Scribner und andere haben die Reformation wieder interessanter und vielfältiger gemacht, und sie haben sich damit weitgehend durchgesetzt - was ganz und gar nicht heißt, dass nicht Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung der Reformation bestünden. Nur ist Scribners "audacious assault on the idea of Protestantism as a rational, modernizing religion" (Roper, 3) heute nicht mehr so kühn wie noch vor zwanzig Jahren. Max Weber erscheint hier ein bisschen wie ein Pappkamerad, der wieder und wieder abgeschossen werden muss.
Zweitens ist es vor diesem Hintergrund bedauerlich, dass Scribner sich - abgesehen von einer Kritik an dessen Etatismus - nie ernsthaft mit dem Konfessionalisierungskonzept auseinander gesetzt hat. Denn es fällt auf, dass dieses mit Scribner die Auffassung teilt, dass alle Konfessionen mit denselben Problemen zu kämpfen hatten, dass beide dem Protestantismus keine modernisierende Sonderrolle einräumen wollen, und dass beide die Rolle der Reformation als eines fundamentalen Wandlungsprozesses eher in Frage stellen. Scribner wie die Konfessionalisierungsforschung sehen weitreichende religiöse und soziale Veränderungen bereits im Spätmittelalter angelegt - wobei sich dann bei beiden die Frage aufdrängt, weshalb die Reformation eigentlich für so eminenten Aufruhr sorgen konnte, wenn alles, was sie ausmacht, bereits vorher vorhanden war. Beide sehen Wandlungsprozesse eher später, die Konfessionalisierungsforschung im späten 16. und 17. Jahrhundert, Scribner - bezogen auf populäre Kultur - wohl erst im 18. und 19. Jahrhundert.
Dass Scribner aber nie explizit sagt, ob und wann ein fundamentaler Wandel eintrat, der die Moderne von Alteuropa trennt, ist ein dritter Punkt, der auffällt. Geht es ihm doch einerseits darum, die Trennung von "traditioneller" und "moderner" Mentalität aufzuheben, indem er zum Beispiel zeigt, wie zweckrational in lokalen Machtkonflikten gehandelt werden konnte. Andererseits wird eine holistisch verstandene prämoderne Kultur mit einer eigenen Rationalität beschrieben, die sich eben doch grundsätzlich von unserer Moderne unterscheidet. Könnte es sein, dass der Antiweberianer Scribner hier auf Webers Kollegen Ernst Troeltsch zurückgreifen müsste, der in der Reformation mitnichten einen epochalen Umbruch zur Moderne sah, sondern diesen stattdessen in der Periode des aufgeklärten "Neuprotestantismus" ansiedelte?
R.W. Scribner: Religion and Culture in Germany (1400-1800), ed. by Lyndal Roper, Leiden / Boston: Brill 2001, XVIII + 380 S., 32 illus., ISBN 978-90-04-11457-9, EUR 99,00
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