Dass die Sowjetunion ein atheistischer und ein den Atheismus propagierender Staat war, ist bekannt und im allgemeinen Bewusstsein präsent. Umso erstaunlicher sind die einleitenden Sätze des rezensierten Buches, das ein Jahrzehnt nach den epochalen Umwälzungen in Ost- und Mitteleuropa das Verhältnis von Politik und Religion im ersten knappen Vierteljahrhundert der Sowjetunion beleuchtet: Der vorliegende Sammelband, so die Herausgeber, "ist das Produkt eines Mangels - des Mangels nämlich, dass es zwar eine Reihe guter Darstellungen zur Religionspolitik in der frühen Sowjetunion gibt, aber keine klaren Auskünfte darüber, wie die Religionspolitik der Bol'ševiki sich innerhalb der einzelnen Religionsgemeinschaften auf dem Boden der Sowjetunion ausgewirkt hat." (7)
Diesen Mangel zu beheben, setzen sich die zwei Autorinnen und acht Autoren zum Ziel. Am Beispiel von neun wichtigen Religionsgemeinschaften wollen sie zum einen den bisher erreichten Forschungsstand darstellen, auf Forschungslücken aufmerksam machen und einen Kommunikationsprozess zwischen Wissenschaftlern in Gang setzen. Zum anderen intendieren sie, ein "Interaktionsschema zwischen (organisierter) Religion und Staat sichtbar" zu machen, "mit dessen Hilfe in Zukunft Aussagen über die Rolle der Religion in der sowjetischen Gesellschaft klarer als bisher getroffen werden soll." (8)
Das Spektrum der hierzu untersuchten Konfessionen reicht von der Russischen Orthodoxen Kirche und weiteren christlichen Konfessionen wie den russischen Altgläubigen, der Georgischen Kirche und der Armenischen Apostolischen Kirche, der lutherische Kirche und protestantischen Freikirchen über Judentum und Islam bis hin zum Schamanismus. Versteht man den Artikel über schamanistische Gemeinschaften als stellvertretend für in Russland bis heute so genannte "heidnische" Religionen, so fehlen vor allem der Römische Katholizismus, die autochthonen "Sekten" wie die Duchoborcen und andere und der Buddhismus. Im Falle des Buddhismus macht sich der bereits erwähnte Mangel in der Forschung bemerkbar - die Herausgeber teilen mit, ihnen sei schlicht kein Forscher bekannt gewesen, der hierzu einen Betrag in einer der verbreiteteren Sprachen hätte schreiben können.
Die einzelnen Kapitel des Buches ähneln sich im Aufbau: Nach einem Überblick über den Forschungsstand und teilweise die Archivlage wird durch einen historischen Überblick in die Situation der jeweiligen Religionsgemeinschaft im Jahre der Oktoberrevolution 1917 eingeführt. Es folgt die Darstellung der im Zentrum des Interesse stehenden Zeit seit 1917. Das Ende der untersuchten Zeitspanne ist das Jahr 1941, als Stalin und die Sowjetregierung durch den Überfall Hitlers zu einem Kurswechsel in der Religionspolitik gezwungen werden. Um die Verteidigungsfähigkeit des Landes zu gewährleisten, kommt es zu Zugeständnissen an die größten Kirchen und Religionsgemeinschaften. Gleichzeitig aber werden politisch als unzuverlässig geltende Völker (und ihre religiösen Organisationen) wie Deutsche, Finnen, Tschetschenen und andere zu Opfern von verschärften Repressionen und Deportationen. Jedes Kapitel endet mit einem englischsprachigen Summary, was die Übersichtlichkeit des Buches deutlich erhöht, und dem obligatorischen Quellen- und Literaturverzeichnis. Dem Aufsatz über die Russische Orthodoxe Kirche ist außerdem noch ein Anhang mit einigen statistischen Tabellen und Übersichten über die hohen orthodoxen Würdenträger der Zeit, rechtliche Grundlagen der Religionspolitik und atheistische Zeitungen und Zeitschriften angefügt.
Die Jahre 1917 bis 1941 lassen sich je nach untersuchter Konfession in unterschiedliche Phasen ihres Verhältnisses zur Staatsmacht gliedern. In den ersten Jahren war vor allem die Russische Orthodoxe Kirche als ehemalige Staatskirche und ideologische Stütze des Zarenreichs im Visier der atheistischen Politik. Ihr Bodenbesitz wurde enteignet, ihre Schulen verstaatlicht, ihr Einfluss im Ehe- und Familienrecht beendet. Atheistische Propagandaarbeit dagegen fand staatliche Unterstützung. Die Kirche reagierte zuerst konfrontativ in Form eines Anathema, das Patriarch Tichon über Partei und Staat verhängte. Ab 1923 nahm der Patriarch einen Kurswechsel vor. Nun versuchte er, durch eine loyalere Haltung gegenüber der Staatsmacht die Kirche zu retten. Diese Politik wurde von seinem Nachfolger Sergij nach Tichons Tod 1925 weitergeführt und überboten. Wolfgang Heller, der Autor des entsprechenden Aufsatzes, geht so weit zu behaupten, mit Sergijs Loyalitätserklärung sei "die Russische Orthodoxe Kirche wieder zur Staatskirche geworden" (20). Dies scheint allerdings sehr fraglich, da die Erklärung des Patriarchen allenfalls das Selbstverständnis der Kirche wiedergibt. Die Staatsmacht hatte zumindest keine Hemmungen, nach einigen Erleichterungen für die Kirche im Jahr 1928 in den Folgejahren die Repressionen, die juristischen Rahmenbedingungen und die praktische Religionspolitik drastisch zu verschärfen. So sank etwa die Zahl der Klöster von über 1.000 im Jahre 1917 bis zum Jahre 1930 auf neun. Über die zwischen 1918 und 1943 verstorbenen Bischöfe teilt uns Wolfgang Heller mit, dass nur 106 eines natürlichen Todes starben, 80 dagegen ermordet wurden und 292 als verschollen gelten.
Wie in den anderen Artikeln des Buches deutlich wird, unterscheidet sich die Religionspolitik der Bolschewiki im Blick auf die verschiedenen Konfessionen zum Teil erheblich. So konnten zum Beispiel protestantische Sekten in den Jahren nach der Revolution sogar von der neuen Politik profitieren: Der Druck, der im Zarenreich auf ihnen lastete, wurde fortgenommen, die Trennung von Staat und Kirche entsprach ganz den eigenen Vorstellungen der Freikirchen. Teilweise erfuhren sie sogar von der sowjetischen Regierung Unterstützung. Lenin und eine Fraktion innerhalb der Kommunistischen Partei verstanden sie als ein "Bindeglied zwischen den traditionellen Formen der Religion und dem Sozialismus" (141). Damit war aber das weitere Schicksal der protestantischen Freikirchen nicht zuletzt durch die Auseinandersetzungen innerhalb dieser Partei bestimmt. In ihr gab es einerseits einen Flügel, der darauf drängte, möglichst schnell das Ziel einer "Befreiung" des Menschen von der Religion zu erreichen. Diesem stand ein anderer Flügel um den "Sektenforscher" Vladimir Bonč-Bruevič entgegen, der "zwischen 1921 und 1927 nicht müde (wurde), die Freikirchler als vorbildliche Arbeiter zu preisen, die den Sozialismus und Kollektivismus schnell vorantreiben würden" (142). Bei aller Unterstützung etwa von freikirchlichen landwirtschaftlichen Kooperativen bis 1927 darf allerdings nicht übersehen werden, dass eine kooperative oder schlicht nicht-repressive Politik immer als temporär galt und, taktisch motiviert, den Zielen der Partei untergeordnet blieb. So ging auch der neuen Zielsetzung in den 1930er-Jahren - der Zerschlagung der Freikirchen wie der anderen Religionsgemeinschaften - kein grundsätzlicher Gesinnungswandel voraus, es handelte sich allenfalls um einen politischen Kurswechsel.
Dem Leser oder der Leserin begegnen in dem rezensierten Werk verblüffende Angaben wie die Zahl von 576 Kooperativen von "Sektierern" und Freikirchlern - die Kommunen der Tolstojaner und Temperenzler nicht mitgerechnet! - im Mai 1924 (151). Auch andere Daten, selbst wenn diese den Fachleuten nicht neu sind, fordern zu einer differenzierteren Betrachtung der sowjetischen Geschichte heraus, als es dem verbreiteten Bild von einer durch und durch atheistischen UdSSR entspricht. So erfahren wir etwa, dass die protestantischen Jugendverbände des Christomol (Evangeliumschristen), des Bapsomol (Baptisten) und des Mensomol (Mennoniten) in den 1920er-Jahren mehr Mitglieder gehabt haben sollen als der kommunistische Komsomol (153). In der Ukraine soll 1928 die Zahl der religiösen Publikationen mit einer jährlichen Gesamtauflage von über vier Millionen Exemplaren die Gesamtauflage der atheistischen Schriften im gleichen Zeitraum (174.000 Exemplare) bei weitem überboten haben (32). Indem auch diese Aspekte von Religion in der frühen Sowjetunion genannt werden, entsteht ein ausgewogenes, differenziertes Bild der frühen UdSSR. Überhaupt sind alle Aufsätze auf eine erfrischende Weise "sine ira et studio" geschrieben, was ja bei dem behandelten Thema nicht immer der Fall gewesen ist - nicht nur zu Zeiten des Kalten Krieges!
Kritisch anzumerken ist, dass sich das Buch wegen zahlreicher Wiederholungen teilweise ermüdend liest. So werden etwa die grundlegenden gesetzgeberischen Maßnahmen nach der Oktoberrevolution und die Gottlosenbewegung ("Bund der (kämpferischen) Gottlosen") in jedem Kapitel von neuem dargestellt. Allerdings muss zugegeben werden, dass dies die Lesbarkeit der Kapitel für sich deutlich erhöht. Bei anderen Themen sind solche wiederkehrenden Themen sogar durchaus spannend. Dies ist etwa der Fall, wenn man erst von den Versuchen der Kommunisten liest, die Orthodoxe Kirche durch die Unterstützung einer regimetreuen schismatischen orthodoxen "Lebendigen Kirche" zu schwächen, und dann ähnliche "Lebendige Kirchen" und ebenso eine "Lebendige Synagoge" bei der Darstellung der anderen Konfessionen wieder begegnen.
Weitere Kritikpunkte betreffen dagegen einzelne Artikel. So fragt man sich beispielsweise, warum aus der Weltwirtschaftskonferenz zu Genua 1921 (69) in der englischen Zusammenfassung plötzlich eine World Oecumenical (!) Conference (84) wird. Weitere Schwächen, Fehler und Ungenauigkeiten finden sich vor allem im Kapitel über die lutherische Kirche, das überhaupt schnell zusammengeschrieben wirkt. Um nur einige Beispiele zu nennen: Ein grundlegendes Werk zum Thema wie Olga Litzenbergers "Die Evangelisch-Lutherische Kirche und der sowjetische Staat" findet keinerlei Erwähnung [1]. In mehreren Fußnoten fehlen die Angaben von Seitenzahlen (120, 121, 123, 128, 131). Ein Gliederungspunkt 2. erscheint (125), ohne dass es vorher ein 1. gegeben hätte, und das erste Unterkapitel von 2. informiert über die "Administrative(n) Grundlagen" - nachdem im vorangegangenen Unterkapitel schon die "Administrative(n) Maßnahmen" (121) behandelt wurden. Sachlich verwundert etwa die Beschreibung der rechtlichen Lage der nichtorthodoxen Religionsgemeinschaften als "Rechtlosigkeit" (111). Immerhin war die lutherische Kirche nach dem 1832 in Kraft getretenen "Gesetz für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland" ins russische Staatskirchensystem eingebunden, ihre Bischöfe wurden aus dem Staatsetat bezahlt. Sprachlich zumindest ungenau ist es, Mennoniten "neben" Protestanten zu stellen (109), als wären diese kein Teil des Protestantismus. Ärgerlich ist es, wenn aus dem lutherischen Predigerseminar in Leningrad ein "Priesterseminar" (121) wird - ein ganz und gar unlutherischer Ausdruck! - und aus der im Englischen allgemein so genannten Evangelical-Lutheran Church eine "Protestant-Lutheran Church" (136).
Diese Kritik betrifft allerdings vor allem das genannte Kapitel. Im Großen und Ganzen ist "Politik und Religion in der Sowjetunion 1917-1941" ein sehr guter Überblick über das Thema. Das Buch ermöglicht zwar keine überraschenden neuen Entdeckungen, stellt aber einzelne Aspekte der Religionspolitik in ein neues Licht, indem es diese in ein breites Feld einordnet - gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, soziale Umwälzungen, nationalitätenpolitische Maßnahmen. Damit hilft es in der Tat, einen Mangel zu beheben, und erreicht so das selbstgesteckte Ziel. Auch wegen des erwähnten übersichtlichen Aufbaus der Artikel, der Darstellungen des Forschungsstandes und der aktuellen Literaturverzeichnisse eignet sich das rezensierte Werk - trotz fehlenden Registers am Ende des Buches - gut als Einführung in das Thema, als praktisches Nachschlagewerk und als Anreiz zu weiterer Forschung.
Anmerkung:
[1] Ol'ga A. Licenberger: Evangeličesko-Ljuteranskaja Cerkov' i sovetskoe gosudarstvo (1917-1938), Moskau: Gotika 1999
Christoph Gassenschmidt / Ralph Tuchtenhagen (Hgg.): Politik und Religion in der Sowjetunion 1917-1941 (= Schriften zur Geistesgeschichte des östlichen Europa; Bd. 23), Wiesbaden: Harrassowitz 2001, 260 S., ISBN 978-3-447-04440-0, EUR 65,45
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