sehepunkte 5 (2005), Nr. 2

Annette Wilczek: Einkommen Karriere Versorgung

Trotz des wissenschaftlichen DDR-Booms in den letzten 15 Jahre weiß man bisher wenig über die realen sozioökonomischen Bedingungen in Volkseigenen Betrieben (VEB) und Kombinaten dieses Staates. In diese Lücke zielt nun Annette Wilczek mit ihrer an der Universität Mannheim entstandenen Dissertation. Darin will sie die Veränderungen der Lebenslage der DDR-Bevölkerung seit den 1960er- und bis in die 1980er-Jahre hinein nachzeichnen und die Bestimmungsfaktoren dieser Entwicklung offen legen. Wilzceks Arbeit ist eine qualitativ angelegte Untersuchung der Lebensbedingungen am Beispiel zweier Betriebe. Dieser Ansatz rechtfertigt sich über die "Betriebszentriertheit" der DDR-Gesellschaft, also dem Faktum, dass diese Basiseinheiten der Planwirtschaft eine herausgehobene Rolle bei der Versorgung der Bevölkerung spielten.

Wilczeks Fallstudien behandeln den VEB Fritz-Heckert-Werk in Karl-Marx-Stadt (FHW), ein Unternehmen der Branche Werkzeugmaschinenbau, und den VEB Elektrogerätewerk Suhl (EGS). Beide Betriebe hatten zur Untersuchungszeit mehrere Tausend Beschäftigte und standen ab Ende der 1960er-Jahre als Stammbetrieb an der Spitze gleichnamiger Kombinate. Methodisch knüpft die Arbeit an die neuere alltags- und sozialgeschichtliche Forschung an. Wilczek interessiert sich für Handlungen und Akteurskonstellationen auf mehreren Ebenen: In den Mittelpunkt stellt sie erstens die Ebene innerbetrieblicher Verhandlungsprozesse um Einkommen, Güter und Dienstleistungen. Eine zweite Betrachtungsebene bilden die Vorgänge zwischen den Betrieben und die Kontakte mit den übergeordneten Instanzen. Letztlich will die Autorin hieraus auch Aussagen über Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit gewinnen.

Im zweiten Kapitel liefert Wilczek eine gut informierte Einführung in den aktuellen Wissensstand zur DDR-Wirtschaft in der Ära Honecker sowie zur Stellung und dem Aufbau der VEB und (ihrer) Kombinate. Zum einen betont sie dabei die Einbindung der Betriebe in die Staats- und Parteibürokratie der DDR. Relevant waren hier die zentralen Instanzen der DDR-Planbehörden sowie das Zentralkomitee und die Bezirksleitungen der SED. In sozialen Fragen waren vor allem aber auch kommunale Instanzen wie Bezirke und Gemeinden von Bedeutung. Zum anderen beschreibt sie innerbetriebliche Eigendynamiken, hier die relativ starke Position der Betriebsleitungen, die Bedeutung der Brigaden im innerbetrieblichen Aushandlungsprozess und die vergleichsweise schwache Stellung der mittleren Ebene der Meister. Das Herz der Arbeit bilden vier empirische Kapitel zu den Themenbereichen "Die Einstellungsbedingungen der Beschäftigten" (Kapitel 3), "Die Regelung monetärer Einkommen im Betrieb" (Kapitel 4), "Die Versorgung der Beschäftigten mit Gütern und Dienstleistungen" (Kapitel 5) und schließlich in Kapitel 6 eine Analyse der "Aufstiegschancen und Anreize für Beschäftigte mit höherer Qualifikation und für das leitende Personal". In einem Schlusskapitel werden wesentliche Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst und in den Kontext der Fragestellung eingeordnet. Die Kapitel zeichnen sich jeweils durch eine kurze Einführung in den Forschungsstand und durch die sich anschließende Präsentation von Fallstudien aus beiden Unternehmen aus.

Insgesamt unterstreicht die Studie die neueren Trends innerhalb der DDR-Alltags- und Sozialgeschichte. Hier seien nur vier der wichtigsten Punkte genannt. Erstens war der "Arbeitsmarkt" der DDR insbesondere für leitende Beschäftigte stärker politisch reguliert und weniger attraktiv als für die einfacheren Beschäftigten. Grundsätzlich gab es auf informeller Ebene einen erheblichen Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte. Die DDR-Volkswirtschaft hatte große Schwierigkeiten damit, die benötigten Funktionseliten auszubilden.

Zweitens waren Einkommen, Prämien und Arbeitszeitregelungen der Beschäftigten in nicht unerheblichem Maß Ergebnis von innerbetrieblich ausgehandelten Kompromissen. Die SED-Zentrale vermochte es in mehreren lohnpolitischen Reformanläufen nicht, die allgemeine Lohnentwicklung zu ihren Gunsten zu verändern. Hier waren auch Betriebsleitungen nicht dazu bereit, den mit den Produktionsarbeitern ausgehandelten Status quo aufzukündigen.

Drittens schärfen die Beispiele das Bild der Betriebe als Verhandlungsarenen mit mehreren Akteursebenen, und sie verdeutlichen die permanente Konkurrenz zwischen Betrieben und Abteilungen um die begrenzten Ressourcen für die zweite Lohntüte (Wohnungen, Luxusgüter, Pkws, Ferienplätze et cetera). Für die Beschäftigten bestand zum einen Verhandlungsspielraum, zum anderen erschien ihnen das System als intransparent und ungerecht. Im Zweifelsfall wurden Verwaltungsvorschriften und Gesetze umgangen und missachtet.

Viertens sahen sich vor allem die leitenden Mitarbeiter in ihren Karriereverläufen widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt. Einerseits mussten sie sich den politischen Anforderungen und der Kritik von oben stellen - im Zweifel waren hier Loyalität und Opportunismus gefragt -, andererseits oblag ihnen die Lösung betrieblich-ökonomischer Probleme. Hier zeigten sie sich durchaus dazu bereit, dem eigenen Unternehmen und seinen Interessen zu dienen. Hieraus resultierende Konflikte und das häufige Auswechseln wichtiger Leitungsstellen werden vor allem am Beispiel des Elektrogerätewerks Suhl beschrieben.

Insgesamt spannen die aufgezeigten Fallbeispiele aus zwei Unternehmen ein mikrosoziologisches Panorama auf, mit dem es die Autorin schafft, zwei wichtige Punkte zu unterstreichen. Alle Kapitel zeigen erstens, dass die Situation in den Betrieben oft stark von den offiziellen Normen und Regelungen abwich. Zweitens werden die Volkseigenen Betriebe nicht nur als zentraler Ort des sozialen und kulturellen Lebens erkennbar, sondern auch als eigenständige und wichtige Aushandlungsebene der DDR-Planwirtschaft. Übergeordnete Planinstanzen erscheinen häufig als schwach und passiv. Insofern hat sich Wilczeks Ansatz bewährt, und man fragt sich, warum diese Perspektive in der DDR-Forschung bisher nicht schon häufiger gewählt wurde. Diese Stärke der Studie ist aber zugleich auch ihre Schwäche, denn eine Verallgemeinerbarkeit der Aussagen auf der Basis zweier Fälle ist - wie die Autorin selbst betont - naturgemäß beschränkt. Hinzu kommt, dass die Quellensituation in beiden Fällen keine vollständige Abhandlung der Themenbereiche erlaubt und die präsentierten Materialien sich manchmal etwas unsystematisch aneinander reihen. Sie werfen somit eher Schlaglichter auf die Betriebe FHW und EGS. Hier wäre es sicherlich hilfreich gewesen, wenn den Unternehmensporträts in Kapitel 2 etwas mehr Raum eingeräumt worden wäre und nicht allzu viele Basisinformationen erst in späteren Abschnitten nachgeschoben würden. Dies erschwert nicht zuletzt die Lesbarkeit und Übersichtlichkeit des Buches. Unter dem Strich muss aber festgehalten werden, dass eine informative Forschungsarbeit zur DDR-Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vorliegt. Auch weil sich der Umfang mit gut 250 Seiten und der Preis mit 19 Euro im unteren Bereich bewegen, können Autorin und Verlag sicherlich mit einer breiteren Resonanz rechnen.

Rezension über:

Annette Wilczek: Einkommen Karriere Versorgung. Das DDR-Kombinat und die Lebenslage seiner Beschäftigten, Berlin: Metropol 2004, 280 S., ISBN 978-3-936411-45-4, EUR 19,00

Rezension von:
Armin Müller
Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz
Empfohlene Zitierweise:
Armin Müller: Rezension von: Annette Wilczek: Einkommen Karriere Versorgung. Das DDR-Kombinat und die Lebenslage seiner Beschäftigten, Berlin: Metropol 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de/2005/02/7425.html


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