Anlass für die kleine, konzentrierte und dadurch sowohl für Kunsthistoriker als auch für das Publikum hochbefriedigende Ausstellung in Kassel war die laut Generaldirektor Michael Eissenhauer bedeutendste Erwerbung in einhundert Jahren (9), die zugleich die Rückerwerbung eines längst für immer verloren geglaubten Hauptwerkes der Sammlung war. Im Jahr 2001 war es den Staatlichen Museen Kassel gelungen, ein Gemälde von Peter Paul Rubens und Jan Brueghel d.Ä. zu erwerben, Pan und Syrinx von zirka 1617, das seit 1813 verschollen war. Treibende Kraft hinter der Erwerbung war der langjährige Leiter der Gemäldeabteilung Bernhard Schnackenburg, der auch die Ausstellung konzipierte. Seine Pensionierung legte das Projekt in die Hände von Justus Lange, der nicht nur fast alle Nummern des Kataloges verfasste, sondern auch in hervorragender Weise die Ausstellung realisierte.
Im ersten der vier Aufsätze des Kataloges beschreibt Schnackenburg die Geschichte des wiedergewonnenen Kasseler Gemäldes von seiner ersten Erwerbung durch Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel bis zu seiner Entführung. Schnackenburg gibt einen Abriss von Entstehung und wechselvoller Geschichte der Kasseler Gemäldesammlung im 18. Jahrhundert, in den sich die Erwerbung des Pan und Syrinx-Bildes 1747 aus der Sammlung des Händler-Sammlers Hendrick van Heteren in Den Haag einfügt. Das Werk hing zunächst im Kabinett des Residenzschlosses, nicht in der Gemäldegalerie. Für die Zeit um 1770 gibt es sogar einen visuellen Nachweis der Hängung: eine Zeichnung der Wand mit Eintragung der Künstlernamen, die nur zur Hälfte erhalten ist, aber in der Mitte an beherrschender Stelle das Gemälde von "[Rub]ens [und B]regel" verzeichnet (30). Schließlich zeigt Schnackenburg, dass die durch die Franzosen ohne Nachweis verschleppten Bilder aus Kassel nicht durch den "berüchtigte[n] Denon [...] mit genommen und rein gestohlen" worden sind, wie Galerieinspektor Robert 1816 notierte (34), sondern 1813 Teil des Fluchtgepäcks König Jérôme Bonapartes war.
In erstaunlich hohem Maße konnten didaktische Ziele der Ausstellung mithilfe von Beispielen aus den Kasseler Sammlungen umgesetzt werden. Nicht nur die zusätzlich zu den 29 im Katalog besprochenen Werken aufgestellten Beispiele antiker Plastik, die für Rubens' Figurenerfindung eine Rolle spielte, sondern auch die meisten Gemälde des ersten Abschnittes der Ausstellung waren aus Kassel. In diesem wurden Kabinettbilder von Rubens (die schöne Flucht nach Ägypten, Kat. 1), von Brueghel sowie Gemeinschaftsarbeiten von Brueghel mit anderen Malern wie Joos de Momper und Hendrick van Balen gezeigt. Das Galeriebild der Sammlung Harrach, das im Katalog Cornelis de Bailleur zugeschrieben wird, zeigt neben anderen Rubenskompositionen auch eine Version von Pan und Syrinx. Sodann belegten grafische Blätter die ikonografische Tradition, auf der Rubens und Brueghel fußten. Zwei gut ausgewählte Zeichnungen von Rubens selbst zeigten seine Wiedergabe des berühmten Ruhenden Pan von Giovanni Angelo Montorsoli (Washington), der zu Rubens' Zeiten für eine antike Skulptur gehalten wurde, sowie ein doppelseitiges Skizzenblatt (Amsterdam) mit mehreren Studien zur Haltung der Syrinx im Kasseler Bild. Zwei kleine Täfelchen von Van Balen (Privatsammlung und London, National Gallery) sind die wohl frühesten bekannten niederländischen Gemälde des Themas. Dieses Material breitet Justus Lange in seinem Katalogaufsatz aus, in dem er die verschiedenen inhaltlichen Schichten des Bildthemas Pan und Syrinx "zwischen Mythos, Moral und Kunst" offen legt. Dem heutigen Betrachter ist weder das Thema selbst mehr geläufig noch die selbstverständliche Weise, in der es, wie die meisten ovidischen Metamorphosen, "moralisiert", das heißt in christlichem Sinne ausgedeutet und verstanden werden konnte. Überraschend nur für unsere Zeit scheint das Verständnis von Pan als der Liebe Gottes, die der widerstrebenden, in Syrinx dargestellten menschlichen Seele nacheilt. Schon der Name Pan wurde in einer heute für falsch gehaltenen Etymologie (42) als Hinweis auf das All und damit auf Gott verstanden.
In dem schön arrangierten zentralen Kompartiment der Ausstellung wurde das neue Gemälde begleitet von den beiden größeren Darstellungen von Abraham Janssen und Jacob Jordaens und so die Bandbreite der möglichen dramatischen Implikationen des Sujets vor Augen geführt. Joost van der Auwera sieht die drei Werke in seinem Katalogaufsatz als einen Wettstreit dieser drei "Großen". Außer der unübersehbar unterschiedlichen Auffassung des Themas durch die drei Künstler scheint aber die Verknüpfung mit der zeitgenössischen Kunsttheorie und gar der postulierte direkte Bezug der Maler aufeinander nicht mit letzter Sicherheit anhand der Werke belegbar.
Der Aufsatz von Christine van Mulders gibt einen Überblick über die Zusammenarbeit von Rubens und Jan Brueghel d.Ä., das Thema ihrer Dissertation. Charakteristisch für die beiden Meister ist es, dass mal, wie im Kasseler Bild, Rubens die Führung in einem solchen Projekt übernahm, sie bei anderer Gelegenheit, zum Beispiel dem Paradiesbild des Mauritshuis, aber Brueghel überließ. Eine Ausstellung des Getty Museums und des Mauritshuis wird 2006 ganz diesem Phänomen gewidmet sein. Auch in der Kasseler Ausstellung waren im letzten Teil weitere Kooperationen von Rubens mit dem älteren und dem jüngeren Jan Brueghel zu sehen. Hier waren vor allem drei Fassungen derselben Komposition des Pan und Syrinx-Themas bemerkenswert, in denen die Landschaft ausgebreiteter angegeben ist als im Kasseler Bild, wo also Figur und Landschaft eher gleichberechtigt behandelt sind und der bewegte Moment des Kasseler Gemäldes in eine wilde Verfolgungsjagd übergegangen ist. Als frühste gilt die Fassung in New Yorker Privatbesitz (Kat. 23), die bald nach dem Tod von Jan Brueghel d.Ä. entstanden sein muss. Eindeutig ist die Landschaft von derselben Hand gemalt worden wie die des Gemäldes in Schwerin (Kat. 25). Dieses zeigt die Figuren in derselben Richtung, die Landschaft aber genau umgekehrt, sodass die Nymphe hier nicht ins Freie strebt, ein Weg, der ihr in der Version in New York durch Wasser versperrt ist, sondern vor dem Gott in das undurchdringliche Waldesdunkel flieht. Bei dem Landschaftsmaler muss es sich in beiden Fällen um Jan Brueghel d.J. handeln. Dass das Gemälde in Schwerin die zweite Fassung darstellt, zeigen am klarsten drei Vögel, die im New Yorker Bild folgerichtig gestaffelt sind: der erste schreckt auf, der zweite erhebt sich in die Luft und der dritte fliegt fort. Im Schweriner Bild kann die Logik dieses Ablaufes nicht eingehalten werden. Der fortfliegende Vogel erscheint auf der entgegengesetzten Seite des Bildes.
Erst auf Grund der Konfrontation der Originale in der Ausstellung erwiesen sich die Figuren des New Yorker Bildes als nicht von Rubens' eigener Hand (wie im Katalog angegeben). Vermutlich aber entstanden sie in seiner Werkstatt und können als seine Erfindungen gewertet werden. Bei dem Schweriner Gemälde war dagegen bereits vorher deutlich, dass es sich um die Hand eines Malers handelt, der seine Vorlage sehr kompetent umsetzte, doch etwas steifer als der Schöpfer des New Yorker Bildes. Dieser Figurenmaler ist daher möglicherweise in der Brueghelwerkstatt zu denken. Ein Indiz dafür dürfte die Beobachtung sein, dass es sich bei einer weiteren Fassung des Bildentwurfs (Kat. 24, Privatbesitz) um eine in der Landschaft schwache Kopie nach dem New Yorker Gemälde handelt, die Figuren aber von derselben Hand sind wie in der Schweriner Version. Es scheint, als hätte Jan Brueghel d.J. die ihm Erfolg versprechende Konzeption des New Yorker Bildes durch Mitarbeiter seiner Werkstatt schlicht reproduzieren lassen. Außerdem unternahm er eigenhändig den Versuch, die Landschaft umgekehrt wiederzugeben und die Komposition auf diese Weise zu variieren. Für die unveränderte Wiederholung der Figuren stützte er sich dabei auf denselben Spezialisten seiner Werkstatt wie bei der anderen Kopie. Die Maße der Figuren, die an den drei Bildern genommen wurden, sind ähnlich, wenn auch nicht identisch. Sie weisen darauf hin, dass der Figurenmaler der Brueghelwerkstatt technische Hilfsmittel verwendete, um die Figuren zu reproduzieren.
Schließlich sind neben weiteren Fassungen des Pan und Syrinx-Themas vor allem zwei Gemälde mit einer dritten und vierten Konzeption des Themas von Rubens zu sehen gewesen. Von diesen überzeugte vor allem die späteste Darstellung (Kat. 28, Bayonne), eine Ölskizze für ein Gemälde aus der Serie der Mythologien für das Jagdschloss Torre de la Parada von Philipp IV., in der die Figuren in hohem Maße in Bewegung versetzt worden sind. Pan hat das Gewand der Syrinx ergriffen, aus deren erhobenen Armen im Laufen wie bei Daphne-Darstellungen bereits die Blätter der Pflanze sprießen, in die sie sich verwandelt. Die andere Fassung (Kat. 27, Buckingham Palace), die als Kopie nach Rubens im Katalog aufgeführt ist, zeigt eine sich ins Schilf wendende Syrinx, zu der Pan sich wie aus einer Drehung herumwirft, eine Komposition, die bei näherem Hinsehen nicht nur die Eigenhändigkeit Rubens' vermissen lässt, sondern auch im Handlungsablauf nicht vollständig durchdacht zu sein scheint, sodass schließlich Rubens' Urheberschaft selbst an einer möglichen Vorlage zweifelhaft ist.
So gelungen und sensibel die Gestaltung der Ausstellung in Kassel erlebt werden konnte, so unsensibel ist das Äußere des Kataloges und geradezu störend seine wirre Typografie. Ein wenig wird man entschädigt durch zahlreiche ganzseitige Detailabbildungen. Mit seinen ausführlichen Katalognummern und den vier einführenden Aufsätzen bildet der Katalog eine kompakte Monografie zu dem Bildthema in den Niederlanden und weit darüber hinaus, und zeigt zugleich, dass in strengem Sinne kunsthistorische Ausstellungen - und gerade solche - "dem Publikum eine Schule des Sehens eröffnen" können (12).
Justus Lange (Hg.): Pan & Syrinx. Eine erotische Jagd: Peter Paul Rubens, Jan Brueghel und ihre Zeitgenossen. Ausstellungskatalog Staatliche Museen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister, Kassel 2004 / Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut 2004 (= Kataloge der Staatlichen Museen Kassel; Bd. 31), Kassel: Staatliche Museen Kassel 2004, 192 S., 44 Farb-, 47 s/w-Abb., ISBN 978-3-931787-30-1, EUR 20,00
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