Vier Problemfelder lassen sich im Fach Osteuropäische Geschichte in Deutschland in den vergangenen Jahren ausmachen, die zu dem Eindruck einer sich zunehmend verfestigenden Krise beigetragen haben: die Diskussion um die womöglich mangelhafte Aufarbeitung der Vergangenheit der Disziplin, der Vorwurf, die Wende von 1989 verschlafen zu haben, die Frage nach der Relevanz des regionalhistorischen Zuschnitts und schließlich der Kampf gegen das allgegenwärtige Diktat von Stellenstreichungen.
Was hätte da näher gelegen, als die Tagung anlässlich des zweiten 100-jährigen Jubiläums der Osteuropäischen Geschichte in Berlin [1] dazu zu nutzen, auf die ersten drei Debatten mit überzeugenden Antworten zu reagieren, um sich dann selbstbewusst gegen die gespitzten Rotstifte als eine lebendige und wichtige neue Forschungsergebnisse produzierende Disziplin zu präsentieren, die auch international Anerkennung findet? Es ist nicht auszuschließen, dass solche Überlegungen bei den Verbänden für Osteuropaforschung, die die Berliner Tagung 2002 ausrichteten, eine Rolle gespielt haben. Die Publikation der Tagungsergebnisse enthält zwanzig Beiträge, die zweifellos eine beeindruckende inhaltliche Spannweite entfalten, jedoch keine gänzlich überzeugenden Antworten bieten. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass die Texte formal sehr heterogen sind: Neben umfangreichen und informativen Forschungsberichten stehen knappe Problemskizzen bis hin zu kaum redigierten Vortragsmanuskripten, Erinnerungen und auch dem Autoreferat einer Dissertation.
Roger Chickering befasst sich mit der Entstehung der Disziplin vor dem Hintergrund des Lamprecht-Streits; plastisch skizziert er die politischen Motive für die Berufung des Deutschbalten Theodor Schiemann und den Widerstand des Berliner historischen Milieus und arbeitet die Prägung Otto Hoetzschs durch Karl Lamprecht heraus. Dittmar Dahlmann orientiert sich in seiner Darstellung der Osteuropaforschung nach 1918 zunächst an der "Zeitschrift für osteuropäische Geschichte" und an "Osteuropa" und präsentiert dann eine Skizze der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde bis zu Hoetzschs Zwangspensionierung 1935. Mit der Zeit des Nationalsozialismus befasst sich Ingo Haar, der den bekannten paradigmatischen Gegensatz zwischen Osteuropäischer Geschichte und Ostforschung auf den Gegensatz zwischen Otto Hoetzsch und Albert Brackmann zu reduzieren versucht. Diese Gegenüberstellung und insbesondere Haars holzschnittartige Wertungen verstellen jedoch den Blick auf die Tatsache, dass es sich dabei weniger um einen Gegensatz zwischen Personen handelte, sondern eher zwischen zwei verschiedenen politischen Perspektiven auf das östliche Europa. Bezeichnenderweise nimmt der Autor Hoetzschs Prägung einer preußischen Ostforschung vor dem Ersten Weltkrieg nicht wahr, und - so verdienstvoll dessen Rehabilitierung auch ist - die ihm zugeschriebene Rolle als Vordenker der Europäischen Einigung wird nicht belegt.
Der Entwicklung der Osteuropäischen Geschichte in der Bundesrepublik sind drei Beiträge gewidmet, die Hans Lembergs Selbsteinschätzung folgend als "impressionistische Skizze[n]" von Zeitzeugen betrachtet werden können. Neben gewiss interessanten Beobachtungen illustrieren sie stellenweise auch die vom Herausgeber eingangs konstatierte "seltsame Scheu", sich kritisch mit der Geschichte der Disziplin auseinanderzusetzen. Nicht viel besser sieht es mit der Geschichte der Disziplin in der DDR aus. Ludmila Thomas' Darstellung der Ost-Berliner Osteuropaforschung ist dem Argumentationsmuster quellentreuer und politikferner Wissenschaft verhaftet und vermag nicht recht zu überzeugen. Sehr informativ ist dagegen Lutz-Dieter Behrendts Beitrag über das Milieu der Leipziger Osteuropaforschung. Die Bedeutung von Günter Mühlpfordts vorangestellter "Grußadresse" erschließt sich dem Außenstehenden erst durch Fußnoten in Wolfgang Küttlers Text, der ausführlich die Rahmenbedingung des Systemdualismus schildert. Weitgehend ausgeblendet bleibt aber eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung der (bundesdeutschen) Ostmitteleuropaforschung nach 1945, was nicht zuletzt im Hinblick auf deren außeruniversitäre Basis und ihre Ausweitung nach 1990 ein gravierendes Manko ist. Ihre Berücksichtigung hätte angesichts zahlreicher Klagen über zunehmenden Stellenabbau das notwendige Fundament für ernst zu nehmende Forderungen bilden können.
Mit dem wissenschaftlichen Stellenwert der deutschen Osteuropahistoriografie befassen sich in ausführlichen Beiträgen Manfred Hildermeier zur russischen und sowjetischen Gesellschaftsgeschichte und Günther Schödl zur Geschichte Ostmitteleuropas. Hildermeier gibt einen instruktiven Überblick über internationale Forschungsansätze und plädiert für eine kontrolliert eklektische "post-sozialgeschichtliche" Forschung. Schödl unterstreicht die außerordentliche Produktivität der Ostmitteleuropaforschung der letzten Jahre und tritt für ihre Emanzipation von dem vermehrt an sie herangetragenen Anspruch ein, sie solle gegenwartsbezogene Politikberatung leisten. Sehr konzise, aber für die 1990er-Jahre doch zu knapp skizziert Klaus Zernack den Stellenwert der mediävistischen Forschungen. Dittmar Schorkowitz' Vorschlag, die Osteuropäische Geschichte im Bereich ethnologischer Forschungen (erneut) auf die Geschichte Russlands zu reduzieren, vermag nicht recht zu überzeugen. Zwei Autoren befassen sich mit der internationalen Wahrnehmung der deutschen Osteuropaforschung. Während Henryk Olszewski die Leistungen des deutsch-polnischen Historikerdialogs skizziert, bietet Sergej Allenov eine in erster Linie bibliografische Darstellung der sowjetischen Auseinandersetzung mit der "faschistischen Ostforschung", deren Erkenntnisgewinn nicht deutlich wird und die den Einsatz des Konjunktivs schmerzlich vermissen lässt. Einige jüngere Referent(inn)en bzw. Autor(inn)en haben ihre Beiträge nicht zuletzt zur Selbstdarstellung genutzt, was in Zeiten knapper Ressourcen und Stellen eine legitime Strategie sein mag.
Auf die zentrale Frage nach dem Sinn und der Notwendigkeit einer geschichtswissenschaftlichen Erforschung von (Groß)Regionen gibt Holm Sundhaussen wichtige Antworten, die jedoch in einem Text versteckt sind, der sich in erster Linie mit dem Niedergang des Berliner Osteuropa-Instituts beschäftigt. Sundhaussen kann überzeugend darlegen, dass Forderungen nach einem Ausschluss der Kategorie "Raum" aus der Geschichtswissenschaft ganz offensichtlich auf dem Vorurteil mancher Gutachter beruhen und einer sachlichen Prüfung nicht standhalten. Auf einem anderen Blatt steht freilich die Frage, ob der Niedergang des Berliner Osteuropa-Instituts allein durch wissenschaftspolitische Fehlentscheidungen bedingt war.
Diese Verknüpfung von teils wichtigen wissenschaftsgeschichtlichen wie forschungsperspektivischen Standortbestimmungen mit Klagen über einen allgemeinen Niedergang der Disziplin ist für weite Teile des vorliegenden Bandes symptomatisch. Hier, wie auch in vielen formalen Aspekten, wäre ein stärkeres editorisches Engagement des Herausgebers dringend erforderlich gewesen. Insgesamt ist hier das Potenzial zur Profilierung der Disziplin Osteuropäische Geschichte nicht ausgeschöpft worden.
Anmerkung:
[1] Die Einrichtung des Extraordinariats für Osteuropäische Geschichte in Berlin 1892 war 1992 Anlass einer Berliner Tagung über Bilanz, Probleme und Perspektiven der Osteuropäischen Geschichte, siehe dazu Karin Borck / Martin Schulze Wessel: Betrachtungen zur hundertjährigen Geschichte der Osteuropa-Historie in Berlin, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1994, 135-148.
Dittmar Dahlmann (Hg.): Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 68), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 297 S., ISBN 978-3-515-08528-1, 60,00
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