Der Rolle der gelehrten Gesellschaften in der Aufklärungsepoche zollen seit einigen Jahrzehnten zahlreiche Forschungsarbeiten Aufmerksamkeit. Im Zentrum der in erster Linie sozialgeschichtlich angelegten Studien stand vorrangig ihre Bedeutung innerhalb der bürgerlichen Emanzipationsbewegung im 18. und 19. Jahrhundert, hinzu kommen disziplinengeschichtliche Untersuchungen sowie Forschungen zum internationalen historischen Kontext wissenschaftlicher Assoziierung. In jüngerer Zeit wird zudem ein kommunikationsgeschichtlicher Ansatz propagiert. [1]
Zu den ältesten privaten naturforschenden Sozietäten Deutschlands zählt die Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin (GNF); sie wurde 1773 gegründet und existiert bis heute. Die Geschichte der ersten mehr als 120 Jahre ihres Bestehens (1773-1906) ist Gegenstand der Arbeit von Katrin Böhme-Kaßler.
In der ausführlichen Einleitung verortet die Autorin die GNF in der vielgestaltigen Landschaft der gelehrten Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts und im Besonderen innerhalb der "Berliner Wissenschaftslandschaft": Die GNF gehört zum Typus der privaten Aufklärungsgesellschaft; seit ihrer Gründung konzentrierte sie sich auf die beschreibende, sammlungsbasierte Naturforschung. Ihre Nähe zu freimaurerischen Idealen und Praktiken stellt ein signifikantes, sie von anderen naturforschenden Aufklärungsgesellschaften unterscheidendes Merkmal dar.
Unter der Vielzahl der Fragestellungen im Hinblick auf Bedeutung und Wissenschaftsrelevanz gelehrter Gesellschaften konzentriert die Autorin ihre Untersuchung auf eine synthetische Betrachtung unterschiedlicher Strukturen und Aktivitäten unter besonderer Berücksichtigung jener speziellen Voraussetzungen und Umstände, die die lange Traditionslinie der GNF begründen halfen - konnte sie doch ihre ursprünglichen Inhalte und Ziele über mehr als hundert Jahre nahezu unverändert in einer Zeit sich gravierend wandelnder äußerer Bedingungen bewahren. Zu Letzteren zählen der inhaltlich-fachliche Wandel der klassischen Naturgeschichte wie die mit der Gründung der Humboldt-Universität eingeläutete radikale Veränderung der Berliner Wissenschaftslandschaft.
Zur Beantwortung ihrer komplexen Fragestellung wählt Böhme-Kaßler eine Synthese methodischer Ansätze: eine Analyse der "strukturellen, materiellen und ideellen Voraussetzungen als Basis für die Darstellung der kulturellen Praktiken, die für die wissenschaftliche Tätigkeit im Rahmen der GNF prägend war" (22). Die Autorin, gute Kennerin des in weiten Teilen erhaltenen Gesellschaftsarchivs, nutzt das reich überlieferte Quellenmaterial und projektiert eine "Innensicht der GNF" von 1773 bis 1906. In diesem Jahr gab die Gesellschaft ihr ursprüngliches Selbstverständnis auf und verließ die traditionellen Pfade, was sie unter anderem mit einer neuen Satzung markierte.
Der Gründungsgeschichte widmet die Autorin nur einen kurzen Passus (29-34), der sich konzentriert auf die Persönlichkeit des Berliner Arztes und Naturforschers Friedrich Heinrich Wilhelm Martini (1729-1778) und sein deistisch motiviertes "leidenschaftliches Interesse" an der Naturgeschichte. Vor diesem Hintergrund galt ihm die offensichtliche Vernachlässigung des Faches in Berlin geradezu als öffentliches Ärgernis. Als weiteren Gründungsantrieb macht Böhme-Kaßler im Rückgriff auf Conrad Grau den expliziten Wunsch einzelner Mitglieder der Berliner Akademie der Wissenschaften aus, die einen ausreichenden Diskussionsrahmen für die Inhalte und Belange der Naturgeschichte dort vermissten. Dem Einfluss staatlich geförderter Akademien auf die Entstehung von Privatgesellschaften geht sie jedoch nicht nach.
Die folgenden Kapitel widmen sich der inneren Organisation (Mitgliedsformen, Siegel), den Arbeitsinstrumenten und Aktivitäten (Naturaliensammlung, Bibliothek, Archiv, Veröffentlichungen, Preisfragen, Kontakte zu anderen wissenschaftlichen Einrichtungen) der GNF. Während der Charakter der Naturaliensammlung, für welche kein Gesamtverzeichnis überliefert ist, nicht näher beschrieben wird, schlüsselt die Autorin auf der Grundlage mehrerer überlieferter Kataloge das Profil der umfangreichen Büchersammlung im 19. Jahrhundert auf und kann eine Fachbibliothek mit überproportionaler Präsenz der beschreibenden Naturwissenschaften dokumentieren. Die sieben über längere oder auch nur sehr kurze Zeiträume erschienenen Schriftenreihen der GNF werden im Überblick unter eher formalen Gesichtspunkten vorgestellt, die Inhalte der publizierten Aufsätze charakterisiert die Autorin summarisch als im engeren Sinn der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts folgende "Neubeschreibungen von Tieren, Pflanzen und Gesteinen oder Revisionen von bekannten Arten" (55). Theoretisch-spekulative Arbeiten wurden für den Druck weniger vorgesehen. Die sechs Preisfragen, die die Berliner GNF zwischen 1777 und 1806 der Öffentlichkeit zur Diskussion stellte, werden zunächst unter formalen Aspekten und dann anhand von zwei Beispielen inhaltlich dargestellt. Preisfragen der Akademien, gelehrten Gesellschaften und anderer Soziäteten räumt die heutige Forschung seit Längerem den Rang einer "Institution der Wissenschaftsgeschichte" ein. Unkommentiert bleibt, dass die GNF hier offensichtlich von den sie leitenden Grundsätzen einer streng deskriptiven Naturgeschichte abwich, indem man gleich zu Beginn einen durchaus spekulativen Gegenstand als Fragestellung wählte, nämlich die Frage nach dem "Epidemische[n] in den eigentlich so genannten Epidemien" (58).
Kauf und Verwaltung eines eigenen Gesellschaftshauses würdigt Böhme-Kaßler als traditionsbildendes Merkmal ausführlich und leitet so zur weiteren Betrachtung der kulturellen Praxis der Gesellschaft über, die sie eingangs als den eigentlichen Gegenstand ihrer Studie bezeichnet hatte und im Hinblick auf das interne Freundschaftsideal sowie das Verhältnis zur Öffentlichkeit untersucht. Nicht nur das gemeinsame Interesse der Mitglieder an der Natur, auch die - im Übrigen für die Aufklärungsgesellschaft charakteristische - persönliche, "freundschaftliche Verbindung" verstand man als konstitutives Element der Gesellschaft, was die Ordentlichen Mitglieder 1789 in einer Grundverfassung (Transkription 167-172) fixierten. Deren Selbstverständnis in Hinblick auf den Umgang der GNF mit der wissenschaftlichen Öffentlichkeit und mit den Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzenden Popularisierungstendenzen in den Naturwissenschaften bewertet die Autorin anhand der Kommunikationsformen und -inhalte der Gesellschaft (Mitgliedsformen, Öffentlichkeit der Sitzungen etc.).
Auf die Analyse von Struktur, Aktivitäten und Verfassung der GNF folgt ein Perspektivenwechsel zum "Bedeutungswandel im 19. Jahrhundert" (105-118). Insbesondere die Gründung einer Universität in Berlin setzt schon zu Anfang des neuen Säculums eine veränderte Schwerpunktsetzung in den Aktivitäten der GNF in Gang: Die universale, der klassischen Naturgeschichte verpflichtete Naturaliensammlung kann der Konkurrenz der Humboldtuniversität nicht dauerhaft standhalten und wird an eine Stiftung abgegeben, die Gesellschaft tritt aus der statuarisch verankerten Abgeschlossenheit gegenüber der Öffentlichkeit heraus und verändert ihre Sitzungspraxis, Ende des 19. Jahrhunderts wird das schon längere Zeit finanziell belastende Gesellschaftshaus veräußert.
Schwerer als dieser Wandel wiegen im Urteil der Autorin die Traditionslinien und Kontinuitäten der Berliner GNF, was sie in dem abschließenden Resümee unter der Überschrift "Traditionsbildung und Traditionen" (119-138) darlegt. Sie kann nachweisen, dass im deistisch geprägten Naturverständnis wie auch in speziellen Grundsätzen und Praktiken, für die sie die ideellen wie strukturellen Parallelen zu der im 18. Jahrhundert aufkommenden Freimaurerei aufdeckt, die Wurzeln bestehen, welche die GNF über mehr als ein Jahrhundert in der Tradition einer die göttliche Weisheit im "Buch der Natur" nachlesenden, empirisch und deskriptiv forschenden Naturgeschichte halten: Bis in das 20. Jahrhundert bilden die sammlungsbasierten Disziplinen den Schwerpunkt im Wirken der GNF, die analytischen, experimentellen Wissenschaften wurden ausgeschlossen. Zu den traditionsbildenden Objekten und Handlungen zählt Böhme-Kaßler die Tage- und Korrespondenzbücher, die Siegel und Signatur, Grundverfassung und anderes.
Mit ihrer "Innensicht" dieser traditionsreichen Berliner naturforschenden Gesellschaft eröffnet Katrin Böhme-Kaßler interessante methodische wie inhaltliche Perspektiven bei der Suche nach "Neuen Wegen in der Sozietätsgeschichte" (Zaunstöck). Die synthetische Fragestellung mit Sicht auf die traditionsbildenden Elemente führt über die engeren sozial- und disziplinengeschichtlichen Untersuchungen der Sozietätenforschung weit hinaus. Auf der Basis dieser kulturgeschichtlichen Perspektivierung wäre nun die Einordnung der GNF im Vergleich zu anderen naturgeschichtlichen und freimaurerischen Aufklärungsgesellschaften ertragreich. Auch sollten sich weitere Arbeiten anschließen, die wieder stärker die eigentlichen bildungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Aspekte der GNF in den Blick nehmen, so beispielsweise eine eingehendere Analyse der Aktivitäten und Bedeutung der GNF für die Naturforschung des 19. Jahrhunderts oder die Untersuchung der Mitgliederstruktur und ihrer Beiträge zur Begründung wie zum Fortbestehen wichtiger Gesellschaftstraditionen, dies gerade in der möglichen Konkurrenzsituation zur neu gegründeten Universität. Mit dieser Referenzarbeit zur Geschichte der GNF und der mit bemerkenswerter Kenntnis präsentierten Quellen des gut erhaltenen Gesellschaftsarchivs hat Kathrin Böhme-Kaßler die besten Voraussetzungen dafür geschaffen.
Anmerkung:
[1] Vgl. den Überlick zum Forschungsstand bei Holger Zaunstöck: Zur Einleitung: Neue Wege in der Sozietätsgeschichte, in: Holger Zaunstöck / Markus Meumann (Hg.): Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 21), Tübingen 2003; s. hierzu die Rezension in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8, URL: http://sehepunkte.de/2004/07/4732.html.
Katrin Böhme-Kaßler: Gemeinschaftsunternehmen Naturforschung. Modifikation und Tradition in der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 1773-1906 (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 15), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 218 S., ISBN 978-3-515-08722-3, EUR 39,00
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