Das Buch von Christoph Tobias Kasulke untersucht den Zusammenhang zwischen Rhetorik und Philosophie im 2. Jahrhundert n. Chr. durch die Analyse von zwei bedeutenden Vertretern dieser Interaktion: Mark Aurel, dem Philosophenkaiser, und Fronto, seinem Rhetoriklehrer. Gegen die communis opinio [1] will der Verfasser zeigen, dass beide Disziplinen nicht in Gegensatz zueinander standen. Seine Beweisführung vereinigt eine historische Perspektive mit einer sowohl inhaltlich als auch stilistisch vertieften Analyse der antiken Texte.
Dem Vorwort folgt eine Einleitung, in der die Sekundärliteratur und die Entstehung der opinio vulgata erörtert werden. Die Auseinandersetzung zwischen Rhetorik und Philosophie in dieser Epoche habe sich in zwei gegenläufigen Tendenzen ausgedrückt: Einerseits wollten Rhetoren und Philosophen sich voneinander polemisch unterscheiden, andererseits fand eine Amalgamierung zwischen beiden Disziplinen statt. Das Verhältnis zwischen Mark Aurel und Fronto wurde traditionell mit der ersten Tendenz verbunden: Die Bekehrung zur Philosophie im 25. Lebensjahr Mark Aurels sei infolgedessen ein bedeutendes Beispiel einer solchen Auseinandersetzung gewesen.
Das erste Kapitel beschreibt die Vorgeschichte des Zusammenhanges zwischen Rhetorik und Philosophie. Während die durch den Phaidros und den Gorgias dokumentierbare Polemik Platons gegen die sophistische Rhetorik des Isokrates zwei gegenseitige Weltanschauungen widerspiegelte, waren bei Aristoteles beide Disziplinen schon nicht mehr im Widerstreit - die Philosophie war nämlich die höchste intellektuelle Instanz, die Rhetorik eine "formale Disziplin bzw. Operationsmethode" (35). Die hellenistisch-römische Zeit war von einem derartigen Gleichgewicht gekennzeichnet, das in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. unterbrochen wurde, als Rom die griechischen Bildungsmodelle assimilierte und beide Disziplinen um den pädagogischen Primat rangen. Dieser Gegensatz dauerte bis ins 1. Jahrhundert v. Chr. und wurde durch eine vornehmlich von Cicero repräsentierte Versöhnungstendenz beendet.
Das zweite Kapitel wendet sich der Zeit der zweiten Sophistik zu. Eine einleitende terminologische Untersuchung von sophistes, rhetor und philosophos zeigt, dass es keinen diskriminierenden Bedeutungsunterschied zwischen den ersten zwei Wörtern gab; Plutarch, Epiktet, Dion von Prusa, Maximos von Tyros und Favorin von Arelate beweisen andererseits die Existenz von häufigen Überlagerungen beider Konzepte: Der 'Halbphilosoph' vereinigte eine rhetorische Grundlage mit von der Philosophie inspirierten Prinzipien. Einige exemplarische Bekehrungen von der einen zu der anderen Disziplin, hauptsächlich von der Rhetorik zur Philosophie, werden betrachtet: Kasulke zeigt den fiktiven und stilisierten Charakter der Bekehrung von Dion von Prusa und die eigentliche Integration beider Disziplinen auf; auch die doppelte (Rhetorik - Philosophie - Rhetorik) Bekehrung Lukians erweist sich als von "affektierte[r] Selbstdarstellung und rhetorische[m] Pathos" (123) charakterisiert, sodass der wirkliche Übertritt zur Philosophie auszuschließen ist. Auch die übrigen Fälle bestätigen, dass trotz der Häufigkeit solcher Bekehrungen ihr stilisierter Charakter nicht erlaubt, sie als Zeichen eines Konfliktes zwischen beiden Disziplinen zu betrachten. Schließlich beweist Kasulke, dass die antiplatonischen Schriften von Aelius Aristides eine gegen Platon und nicht gegen die Zeitgenossen gerichtete Kritik enthielten, die die Integration des platonischen Standpunktes in die Konzeption der Rhetorik von Aelius Aristides zum Ziel hatte. Die Schrift Gegen die Rhetoren von Sextus Empiricus, die traditionell als Reaktion auf Schriften von Aelius Aristides betrachtet wurde, hatte in Wirklichkeit einen Zweck und eine Vorgehensweise, die überaus philosophisch und jeglicher zeitgenössischen Debatte fremd waren.
Das dritte Kapitel behandelt eingehend Fronto und Mark Aurel. Die These der Bekehrung Mark Aurels zur Philosophie (und der konsequenten Ablehnung der Rhetorik) im Jahr 146 wird widerlegt, insofern Mark Aurel tatsächlich schon seit Langem an der Philosophie interessiert war; eine völlige und definitive Abkehr von der Rhetorik wäre andererseits mit den kaiserlichen Pflichten unvereinbar gewesen. Kasulke stellt den Hinweis auf philosophische Studien im so genannten Bekehrungsbrief (4,13 p. 67 f. vdH2) nicht infrage: Er glaubt aber, dass ein solcher Brief bloß das Zweifeln und die Verzweiflungsepisoden derjenigen, die sich auf dem Weg der Philosophie befinden, dokumentiert; die biografisch-intellektuelle Bedeutung dieses Zeugnisses soll infolgedessen nicht überschätzt werden. Auch nach 146 unterließ Mark Aurel rhetorische Übungen nicht, deren Wirksamkeit im Stil der Briefe des Kaisers besonders deutlich ist; in ähnlicher Weise ist das Kapitel 3,14 der Selbstbetrachtungen - das den früheren Gelehrten zufolge die Ablehnung der rhetorisch-literarischen Kultur widerspiegele - ein Zeugnis dafür, wie dieses Interesse auch in den letzten Jahren Mark Aurels anhielt. Die Wahl des Griechischen als Sprache der in reifem Alter geschriebenen Selbstbetrachtungen spiegelt also keine Polemik gegen Fronto wider, sondern die profunde Kenntnis jener Sprache und den Einfluss von Epiktet. Die stilistischen Eigentümlichkeiten der Selbstbetrachtungen sollen aber nicht ausschließlich als Ergebnis der Lehre Frontos betrachtet werden. Die Verwendung von entlegenen Wörtern, Archaismen, Deminutiven, und das Gespür für den passenden Ausdruck beweisen eine verschiedenartige Beeinflussung; während die Sentenzen auf die kynisch-stoische Diatribe zurückgeführt werden sollen, kann man im Fall der Gleichnisse bemerken, dass Mark Aurel sich das theoretische Interesse Frontos zu Nutze macht, um die philosophischen Zwecke seines Werkes zu erreichen. Die Interaktion zwischen Philosophie und Rhetorik wird schließlich auch von Frontos Schrift de eloquentia bestätigt (133-152 vdH2), mit der der Rhetor keine Kritik der stoischen Philosophie, sondern ein ästhetisches Urteil über die stoische Dialektik und Logik abgeben wollte.
Einer nützlichen Synthese folgen ein Literaturverzeichnis, ein Schema von Abkürzungen und Zitierweisen, ein Index locorum und ein Index rerum et nominum. Den Band schließt ein knapper Index verborum Graecorum et Latinorum.
Dem Verfasser kann nicht immer zugestimmt werden, etwa wenn das erste Buch der Selbstbetrachtungen in Form thematischer Einheiten interpretiert wird, um das Kapitel 1,7 zu erklären (241-248). Im Allgemeinen hätte der Leser eine größere Prägnanz der Darstellung geschätzt, insbesondere wenn der Inhalt der analysierten antiken Werke zusammengefasst wird. Diese nebensächlichen Beobachtungen stellen trotzdem nicht den Wert einer Untersuchung infrage, die von einer gut dokumentierten und einleuchtenden Beweisführung und von der Auswahl eines kritischer Betrachtung werten Themas geprägt ist. Dieses Buch wird sicherlich die Gelehrten anregen, die weiteren Auswirkungen seiner Ergebnisse nicht nur auf die Literaturgeschichte, sondern auch auf die antike Philosophie zu erforschen.
Anmerkung:
[1] Siehe D. Karadimas: Sextus Empiricus against Aelius Aristides: the Conflict between Philosophy and Rhetoric in the Second Century A.D., Lund 1996, als letztes Beispiel.
Christoph Tobias Kasulke: Fronto, Marc Aurel und kein Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie im 2. Jh. n. Chr. (= Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 218), München: K. G. Saur 2005, 456 S., ISBN 978-3-598-77830-8, EUR 96,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.