Die Mainzer theologische Habilitationsschrift verfolgt zwei Ziele: Zum einen geht es um eine Aufarbeitung der Vorstellungen vom Norden, zum anderen um die "Entwicklung der Idee des Eurozentrismus" (1) - beides in einer diachronen, mit dem Alten Testament und den frühesten griechischen Zeugnissen beginnenden Perspektive, die den Blick besonders auf die Zeit vom 4. bis zum 13. Jahrhundert richtet. In drei groß angelegten Hauptkapiteln wird zunächst nach den "Urschemata des patristischen und mittelalterlichen Weltbildes" (5), das heißt nach dem Bild des Nordens in der Bibel und in der griechischen und lateinischen Literatur der Antike gefragt (Kap. 1: 7-159); sodann geht es um den "Norden in der Patristik" (Kap. 2: 161-324) und schließlich um "Das Bild des Nordens im Mittelalter" (Kap. 3: 325-443).
Die Analyse der einschlägigen alttestamentarischen Belegstellen (Kap. 1) verweist auf ein Bild vom Norden, das diesen zugleich als heilig, aber auch als unheilschwanger darstellt; während der Norden zum einen als Herkunftsgebiet der Geißel Gottes erscheint, ist er über die Völkertafel Genesis 10 trotzdem in den Gesamtzusammenhang der von Menschen bewohnten Welt eingebunden, insofern seine Bewohner einen Teil der seit Noahs Söhnen dreiteiligen Menschheit ausmachen. Der biblische Norden trägt damit einerseits realistische, andererseits aber auch starke apokalyptische Züge. Anders als im Alten Testament ist der Norden in den griechisch-römischen Quellen der Antike nicht theologisch, sondern durch Topoi der Ethnografie aufgeladen, wobei ihn insbesondere die Germania des Tacitus als Sammelbecken für unbesiegbare Barbaren charakterisiere.
Aus der Bearbeitung der patristischen Literatur der Völkerwanderungszeit (Kap. 2) ergibt sich eine allmähliche Ablösung des theologisch-geografischen Palästinozentrismus des Alten Testaments, der den Norden an der Peripherie (im Verhältnis zum 'Gelobten Land') ansiedelte, durch einen theologisch-anthropologischen Christozentrismus, der in der Adam-Christus-Typologie seine Vertiefung und Bestätigung erfahren habe: Ebenso wie der Name Adam, dessen Akrostichon auf die vier Himmelsrichtungen verweist (Anatolé, Dúsis, Árktos, Mesembría), symbolisiert das Kreuz Christi die viergeteilte Welt, wobei der Norden auf der rechten Seite des Kreuzes lokalisiert und damit in Analogie zum guten Schächer gesetzt wurde. Gleichzeitig erscheint Europa nunmehr als Heimat der Japhetiten und konnte somit als Gegenkonzept zum unheilschweren, apokalyptischen Norden des Alten Testaments aufgebaut werden. Die während der Völkerwanderung andringenden Barbaren mussten damit nicht zwangsläufig in einen endzeitlich-apokalyptischen Kontext gebracht werden, sondern konnten zugleich auch Eingang in optimistischere Sinnzusammenhänge finden und zum Ziel christlicher Mission avancieren.
Das Mittelalter (Kap. 3) sah mit der Entdeckung und allmählichen Christianisierung Skandinaviens die gegenläufige Bewegung einer Verkleinerung des geografischen Europa und einer Vergrößerung des christlichen Europa. Mit dem Mongolensturm schließlich habe Europa als fast ausnahmslos christliches Gebiet (abgesehen von einem Teil der Iberischen Halbinsel) gegenüber den nicht-christlichen Regionen rings herum neue Konturen gewonnen, habe sich als christlich-missionarisches Zentrum neu definiert und im Sinne eines Eurozentrismus ein entsprechendes Selbstverständnis entwickelt, aber: "Der Eurozentrismus bedeutete nicht einen Triumph Europas, sondern drückte eine schwere Aufgabe der Europäer aus - die Christianisierung der Ökumene. Europa, der nördliche Teil der Welt, der oft in der Bibel und in den patristischen Schriften als Wohnsitz Satans stigmatisiert war, wurde im Mittelalter zur Quelle der christlichen Mission. Die Europäer kannten aber das biblisch-patristische Bild des Nordens und auch sich selbst gut. Sie stellten sich also nicht als das auserwählte Volk, sondern als die auserwählten Schächer dar" (443).
Diese Hauptresultate werden flankiert durch eine Fülle von Detailbeobachtungen und -ergebnissen, die das Buch besonders wertvoll machen und auf einer stupenden Quellen- und Literaturkenntnis beruhen. Für Althistoriker sind dabei besonders die beiden ersten Kapitel von größerer Relevanz, die von Homer bis zum Frühmittelalter sämtliche Nachrichten über den Norden und Europa behandeln und systematisch zueinander in Beziehung setzen. Hervorzuheben sind dabei vor allem die instruktiven Kapitel über die nördlichen Inseln bei Pytheas von Marseille (64-77) und über die Hunnen (278-293). Dank der Angewohnheit des Autors, nahezu jedes Unterkapitel mit einem generellen Problemaufriss und zahlreichen Literaturverweisen zu beginnen, lassen sich die einzelnen Teile des Buches auch bequem selbstständig als Referenzen zur ersten Orientierung in Einzelfragen verwenden. Subtile Quellenarbeit, klare Kontextualisierungen und die Heranziehung umfangreicher Sekundärliteratur - alles in allem ein eindrucksvolles Quantum an Gelehrsamkeit - zeichnen dieses Buch aus.
Piotr Kochanek: Die Vorstellungen vom Norden und der Eurozentrismus. Eine Auswertung der Patristischen und Mittelalterlichen Literatur (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Bd. 205), Mainz: Philipp von Zabern 2004, XI + 631 S., ISBN 978-3-8053-3456-3, EUR 51,00
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