Der kleinformatige, schmale Band von Barbara Hoffmann ist die veröffentlichte Form ihrer Diplomarbeit, die sich mit dem Schicksal der Kriegsblinden in Österreich in den Jahren 1914 bis 1934 befasst. Relativ klein - zumindest angesichts der Opfer, die der Erste Weltkrieg insgesamt forderte - ist auch die Zahl derjenigen, die Hoffmann in das Zentrum ihres wissenschaftlichen Interesses gerückt hat: Sie nennt nach ihrer sorgfältigen Recherche die Zahl von schätzungsweise 300 Menschen, die in Österreich im Ersten Weltkrieg in den kriegerischen Auseinandersetzungen ihre Sehkraft verloren. Ihre Zahl sei auch deshalb vergleichsweise niedrig, weil Blindheit meist die Folge von schweren Kopfverletzungen gewesen sei, denen viele der Verwundeten erlagen - so die Verfasserin. Es ist durchaus legitim und als Reaktion auf eine lange praktizierte Kriegsgeschichte von oben durchaus konsequent, die Darstellung des Krieges bis auf die Ebene einzelner Akteure oder kleiner Gruppen herunterzubrechen. Anliegen der Verfasserin ist es, darzustellen, was Kriegsblindheit für die Betroffenen wirtschaftlich, rechtlich, sozial, psychisch und physisch bedeutete und wie der Staat auf die Herausforderungen reagierte, diese Menschen versorgen und unterstützen zu müssen. Dass sie dabei auch - oder vor allem - die Lage blinder Menschen heute im Blick hat, soll später thematisiert werden.
Barbara Hoffmann konnte sich für Ihre Untersuchung auf publizierte Quellen und auf Archivmaterial stützen. Letzteres leider nicht für alle Kriegs- und Nachkriegsjahre (sie selbst legt nicht wirklich klar dar, ob die Bestände nicht erhalten sind oder von ihr nicht bearbeitet wurden; 17). Schwerer wiegt allerdings, dass die ihr zur Verfügung stehenden Archivquellen fast ausschließlich Verwaltungsakten sind, d. h. Dokumente, die bei Rentenanträgen erstellt wurden. Durch solche Akten schimmert zwar die jeweilige Person durch - Alter etwa, oder Ausbildung und Beruf lassen sich für einen Teil der von ihr untersuchten Kriegsblinden rekonstruieren. Doch wie sie ihr Schicksal bewertet haben, wie sie die Politik der jungen Republik einschätzten und wie sie vor diesem Hintergrund den Krieg erinnerten, davon ist nichts zu lesen. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die Weltkriegsforschung immer stärker mit dem Kriegserlebnis der Soldaten und der Zivilisten beschäftigt, hat sich auf die Spur der Basis begeben und versucht zu beleuchten, wie der Krieg von einfachen Soldaten, Arbeiterfrauen oder Hilfsdienstleistenden erlebt wurde. Historiker haben sich aber auch der Medizin im Krieg gewidmet und die Modernisierungsschübe nachgezeichnet, die sich in Teildisziplinen der Medizin nachweisen lassen. Sie haben sich der schwierigen Aufgabe gestellt zu rekonstruieren, welche psychischen Folgen der Erste Weltkrieg für die Soldaten hatte - und wie die Medizin / Psychologie darauf reagierte. Und nicht zuletzt ist die Wirkung, die der Erste Weltkrieg ausübte, Ausgangspunkt fruchtbaren Forschungsinteresses gewesen. In diesem Themendreieck vermutet also der Leser - oder zumindest die Rezensentin - nicht zuletzt durch die Geleitworte ermutigt - den Gegenstand der besprochenen Studie.
Hoffmann fächert vor dem Leser ein breites - möglicherweise allzu breites - Themenspektrum auf: Sie nennt die vielfältigen Ursachen, die zur Erblindung führten, schildert die medizinische Versorgung an der Front und in Kliniken im Hinterland, listet die Maßnahmen auf, die ergriffen wurden, um die Kriegsblinden in einen Arbeitsprozess zu integrieren, der ihnen eine soziale Absicherung garantieren sollte. Bis hin zum Tagesablauf in einem Blindenheim erfährt der Leser in 56 Kapiteln (verteilt auf 215 Seiten) viel über die Maßnahmen der Blindenfürsorge. Vergeblich wartet der Leser aber darauf, mehr über das Schicksal der 300 Kriegsblinden und ihrer Deutung der politischen Ereignisse zu erfahren. Sie sind dem Leser am Ende des Buches leider genauso unbekannt wie zu Beginn. Von Mentalitätsgeschichte - wie im Geleitwort angekündigt - also keine Spur.
Die Fragmentierung des Buches in so viele kleine Kapitel zeigt dem Leser, dass Hoffmann am liebsten alle Facetten der Blindheit behandeln möchte - dabei aber kaum mehr als die Oberfläche berühren kann. In den letzten Kapiteln widmet sie sich auf wenigen Seiten einem Vergleich nicht nur mit dem deutschen, sondern auch mit dem englischen und amerikanischen System der Blindenversorgung. Das muss auf so wenigen Seiten fast zwangsläufig scheitern; zufriedenstellende, differenzierte Ergebnisse formuliert sie leider nicht. Hier zeigt sich noch einmal ganz deutlich, dass die Verfasserin beherzter auf die Behandlung einiger Facetten ihres Themas hätte verzichten sollen und stattdessen gründlicher ihrer Leitfrage hätte nachgehen sollen.
Hoffmann kommt in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass es in Österreich zur Herausbildung eines zwei Klassensystems gekommen sei, in dem die Kriegsblinden gegenüber den Menschen, die von Geburt an oder im zivilen Leben erblindet waren, eindeutig bevorzugt wurden. Ob das aber zu gesellschaftlichen Konflikten führte oder irgendwelche Folgen hatte, erfährt der Leser nicht. Genau das hätte sich der Leser aber gewünscht: etwas zu erfahren über die Art und Weise, mit der die Kriegsblinden ihr Schicksal bewältigt haben, wie sie vor diesem Hintergrund den Krieg erinnert und interpretiert haben. Wenn Hoffmann davon spricht, dass es ein zwei Klassensystem zwischen zivilen und Kriegsblinden gegeben hat, erwartet der Leser eben genau das in Aussagen von Betroffenen zu hören und nicht ausschließlich als These der Verfasserin. Möglicherweise geben die Quellen darüber keine Auskunft - aber die Reflektion über Möglichkeiten und Grenzen der verwendeten Quellen gehört in eine historische Arbeit.
Im Geleitwort unterstreicht der Präsident des österreichischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, dass sich die von Barbara Hoffmann geschilderten psychischen und physischen Auswirkungen der Erblindung bis zur Gegenwart nicht geändert haben. Hoffmann, selbst Pressereferentin der Tiroler Landesgruppe des österreichischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, kennt sich offenbar persönlich mit diesem Thema und den Problemen aus und sie scheinen ihr am Herzen zu liegen. Vielleicht ist das für sie der Anlass gewesen, sich mit einem Kapitel der Geschichte der Blindenfürsorge auseinander zu setzen. Doch gerade auch durch ihr eigenes Engagement hätte sie wissen können, wie wichtig es ist, nicht nur theoretische und medizinische Erkenntnisse und Gesetzestexte zu kennen, sondern auch etwas von den ganz konkreten Erfahrungen der Betroffenen zu erfahren. Der Erste Weltkrieg - so scheint es der Rezensentin - ist kaum mehr als die Kulisse vor deren Hintergrund die Verfasserin das Schicksal der Blinden skizziert. In diese Richtung weist auch ihr Ausblick auf spätere Feldzüge: Nicht dem Krieg als spezifischem historischen Ereignis gehört das Interesse der Autorin, sondern den Blinden. Dabei läuft sie Gefahr, zu viele gänzlich unterschiedliche Kämpfe über einen Kamm zu scheren. Am Ende der Lektüre einer historischen Arbeit ist das ziemlich unbefriedigend. So ist die Rezensentin nach rund 250 Seiten um viele Informationen reicher, Erkenntnisse wurden ihr aber nicht vermittelt. Leider.
Barbara Hoffmann: Kriegsblinde in Österreich 1914-1934 (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz - Wien - Klagenfurt; Bd. 9), Graz: Verein zur Förderung der Forschung von Folgen nach Konflikten und Kriegen 2006, 246 S., ISBN 978-3-901661-17-4, EUR 19,90
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