Mit dem Hinweis auf das 350-jährige Jubiläum des Westfälischen Friedens 1998, das hier als "ein einzigartiger Tag in der Geschichte der Stadt" (889) apostrophiert wird, schließt die neue Gesamtdarstellung der Geschichte von Osnabrück. Da diese niedersächsische Großstadt nicht nur dieses Jubiläum gemeinsam mit dem westfälischen Münster begangen hat, sondern auch sonst in vielfältiger Weise gern den Wettstreit mit der Nachbarstadt sucht, scheint es auch legitim, die bereits 1993 erschienene "Geschichte der Stadt Münster" [1] als Messlatte heranzuziehen. Während es sich bei dem Vergleichsobjekt um ein dreibändiges Werk handelt, präsentiert sich die Osnabrücker Stadtgeschichte in einem Band der Öffentlichkeit. Dieses bereits im Kontext des Friedensgedenkens 1998 begonnene Unternehmen war überfällig, da die letzte umfassende Darstellung des Seminaroberlehrers Ludwig Hoffmeyer zwar noch 1995 eine 6., erweiterte Auflage erlebt hatte, aber eigentlich von 1918 stammte.
Der von dem vormaligen Osnabrücker und jetzigen Oldenburger Staatsarchivdirektor Gerd Steinwascher herausgegebene Band gliedert sich in 11 Kapitel, in denen 10 verschiedene Autoren, allesamt ausgewiesene Kenner der Materie, die Historie von den ersten Siedlungsspuren bis in die Gegenwart beleuchten. Allen gemeinsam ist ein Schreibstil, der das Gesamtwerk von manchen in elaboriertem Stil gehaltenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen positiv abhebt und zu einer informativen Lektüre macht. Erreicht wird dies dadurch, dass die Autoren sich bei Zitaten aus Quellen und Literatur auf das Wesentliche beschränken und zudem die Allgemeinverständlichkeit durch eine klare Syntax erhöhen. Darüber hinaus werden Fachbegriffe, wie z.B. Pietismus (249), zumeist so knapp erläutert, dass selbst Experten daraus Gewinn ziehen. Als durchaus gelungen ist auch die Bildauswahl und Bildqualität zu bezeichnen, wobei manche Häuserensembles, Kunstdenkmäler (vor allem in Kapitel 6) und Personengruppen auf den zumeist sehr kleinen Fotos nicht genügend zur Geltung kommen. Inwieweit die Übersichtlichkeit der einzelnen Kapitel durch kleinteiligere Zwischenüberschriften noch mehr gewonnen hätte, bliebe zu diskutieren.
Den Auftakt der Stadtgeschichte bildet ganz in herkömmlichem Sinn eine siedlungshistorische Abhandlung aus der Feder von Wolfgang Schlüter (15-60), in die Ergebnisse zahlreicher unter der Ägide des Verfassers als Kreisarchäologe erfolgter Grabungen der letzten drei Jahrzehnte Eingang gefunden haben.
Offensichtlich der geringen Quellendichte geschuldet, fällt Thomas Vogtherrs Überblick über das frühe und hohe Mittelalter (61-86) eher knapp aus, während Dietrich W. Poeck das Spätmittelalter wesentlich intensiver abhandelt (87-160). Dabei schenkt er zum einen der Stadtverfassung, zum anderen der Hansezugehörigkeit und nicht zuletzt den reichen Memorienzeugnissen Osnabrücks besondere Aufmerksamkeit. Das Reformationszeitalter und den Dreißigjährigen Krieg stellt Gerd Steinwascher kenntnisreich dar (161-228) und thematisiert dabei vor allem den Westfälischen Frieden.
Der anschließende Zeitraum bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges (229-266) wird von Ronald G. Asch behandelt, der es versteht, "eine der am schlechtesten erforschten Epochen in der Geschichte der Stadt" (249) mit Leben zu füllen. Schwerpunkte legt er dabei auf Osnabrück als Garnisonstadt und auf das Verhältnis von Stadt und Landesherr.
Der folgende Beitrag zur Kunstgeschichte bis zum Ende der Frühneuzeit (267-312) ist zwar inhaltlich versiert von Reinhard Karrenbrock verfasst, unterbricht aber auffällig den bisherigen chronologischen Ansatz des Projektes, der in den folgenden Kapiteln fortgesetzt wird. Wie das Beispiel der Münsteraner Stadtgeschichte zeigt, kann es sinnvoll sein, parallel zum zeitlichen Verlauf einzelne Sektoren der Geschichte in separaten Kapiteln abzuhandeln. Dies gilt insbesondere für die neuere und neueste Geschichte, in der aufgrund der Quellenflut eine Fülle an Parallelentwicklungen zu verzeichnen ist. Topografie und Demografie Osnabrücks, politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung, Adel und Bürgertum, Kirche und Schule sind einige von ihnen, die Christine van den Heuvel für das Jahrhundert vom Siebenjährigen Krieg bis 1866 noch gemeinsam in den Blick zu nehmen vermag (313-444).
Methodisch wie thematisch eindimensionaler erscheint dann jedoch Rolf Spilkers Abhandlung der Jahrzehnte des Kaiserreichs bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (445-640). Dieses mit nahezu 200 Seiten (!) umfangreichste Kapitel akzentuiert sinnvollerweise die Bedeutung der Industrialisierung für die Expansion Osnabrücks. Ausführlich werden Eisenbahnbau und Einzug der Elektrizität sowie die Ansiedlung verschiedener Industriebetriebe beschrieben. Die Auswirkungen des Kulturkampfes auf die konfessionell gemischte Stadt oder die Entwicklung des Parteienwesens bleiben aber nahezu ausgeklammert. Alltags- und Gesellschaftsgeschichte geraten im wesentlichen nur im Kontext des Ersten Weltkriegs in den Blick.
Diese Wünsche kann der Herausgeber, Gerd Steinwascher, für die Weimarer Zeit und den Nationalsozialismus allerdings durchaus erfüllen (641-766). Über die industrielle und soziale Entwicklung Osnabrücks hinaus kommen hier nämlich auch Parteien, Politik, Kirchen und Schulen eingehend zur Geltung, weshalb dieser Beitrag eine beträchtliche Bandbreite widerspiegelt. Vor allem versteht es Steinwascher, die im Geleitwort des Oberbürgermeisters eingangs aufgezeigten "Wechselwirkungen zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen" (5) zu realisieren. Stadtgeschichte wird bei ihm als Teil der deutschen Geschichte zwischen 1918 und 1945 lebendig, teilweise sogar spannend vermittelt.
Damit werden Maßstäbe gesetzt, die Frank Henrichvarks Darstellung der Nachkriegsgeschichte (767-890) nicht vollständig erfüllen kann. Sie bleibt nicht nur vergleichsweise knapp, sondern setzt ein wenig eindimensional bei der "Agonie in der Stadt" (781) am Kriegsende an, um sich schwerpunktmäßig auf den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Entfaltung zu beschränken. Die moderne Kunst- und Kulturgeschichte bleibt weitgehend ausgeklammert, so dass nicht allein eine Fortführung von Karrenbrocks kunsthistorischen Ausführungen für das 19. und 20. Jahrhundert als Desiderat erscheint. Weniger ins Gewicht fallen gelegentliche Redundanzen in aufeinander folgenden Kapiteln, wenn beispielsweise der Bürgermeister Miquel (443 u. 452) oder der Mäßigkeitsapostel Kaplan Seling (436f., 504) dem Leser mehrfach vorgestellt werden. Kaum erheblich erscheint auch die Tatsache, dass das Foto von Bischof Berning (725) nicht - wie die Bildunterschrift erläutert - "bei seinem Priesterjubiläum", sondern bei seinem 25-jährigen Bischofsjubiläum 1939 entstanden ist.
Daher schmälern die Monita keineswegs die Qualität dieses Buches, das durch ein Literaturverzeichnis und ein kombiniertes Orts- und Personenregister weiteren Wert gewinnt. Das wesentliche Verdienst von Herausgeber und Autoren liegt nämlich darin, dass ihnen der Spagat zwischen einer die Laien ansprechenden populären und einer auch für Fachleute mit viel Gewinn zu lesenden Darstellung gelungen ist. Nicht zuletzt durch seine geschmackvolle Gestaltung wird der opulente Sammelband sicherlich einen großen Leserkreis finden und zudem für die nächsten Jahrzehnte das Standardwerk zur Geschichte Osnabrücks bleiben.
Anmerkung:
[1] Vgl. Franz-Josef Jakobi (Hrsg.): Geschichte der Stadt Münster, 3 Bde., 3. Aufl. Münster 1994.
Gerd Steinwascher (Hg.): Geschichte der Stadt Osnabrück, Belm: Meinders & Elstermann 2006, 991 S., ISBN 978-3-88926-007-9, EUR 59,00
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