Parallel zu einem in Hoffnung und Horror gleichsam euphorischen Globalisierungskult gewinnen subnationale Identifikationsmuster erheblich an Attraktivität. Während sich die deutschsprachige Geschichtskultur mit transnationalen Denkmustern noch immer schwer tut, werden Kulturräume als Geschichtslandschaften seit Jahr und Tag mit historischen Mustern definiert und legitimiert. Nicht zuletzt aufgrund der mit besonderer Verve betriebenen Integration des Rheinlands in das preußische Königreich verfügt die rheinische Landes- und Regionalforschung über eine sowohl in Form von bürgerlichen Geschichts- und Altertumsvereinen als auch in Form von universitär-akademischen Einrichtungen eine bis weit in das 19. Jahrhundert zurück reichende Tradition, die innerhalb der historiografischen Branche über weite Abschnitte als paradigmatisch gelten darf. [1]
Während multidisziplinäre Methodik und interdisziplinäres Forschen landeshistorischen Arbeiten seit dem 19. Jahrhundert eigen ist, blieb deren Gegenstand nicht selten unklar. So mühelos regionale Eigen- und Besonderheiten auf den vielfältigen Wegen zwischen Dialektgeografie und Patrozinienkunde zu erweisen sind, so schwierig ist es, nachvollziehbare Aussagen über deren Ausdehnung und Begrenzung zu treffen. Auch die Frage nach dem Legitimationsziel einschlägiger Forschung erbringt über den historischen Verlauf hinreichend verwirrende Antworten. Von der Sicherung der Westgrenze des Reiches gegen den "französischen Erbfeind" und der maßlosen Erweiterung "rheinisch-germanischer" Ambitionen im Zuge der Westforschung bis zur Proklamation eines historisch-kulturell eigenständigen westeuropäischen Zwischenreiches zwischen den atlantischen und dem mitteleuropäisch preußischen-deutschen Staatswesen reicht die Palette.
Mit seinem historischen Streifzug durch die Geschichte des Rheinlandes verfolgt Willi Arnolds letztere Variante und legt ein beherztes Plädoyer für eine endlich zu schaffende rheinische Republik vor. Demgemäß geht Arnolds nicht streng chronologisch vor, sondern gliedert nach wichtigen Aspekten seines Rheinland-Begriffs, die dann jeweils chronologisch umfassend debattiert werden. Er beginnt mit einem Kapitel "Das Rheinland und seine Nachbarn", in dem der historisch-geografische Raum konzeptioniert wird ("Der Rhein", "Der Begriff 'rheinisch'"), sowie die Abgrenzung der benachbarten Räumlichkeiten ("Die Nachbarn im Westen", "Westfalen und das Ruhrgebiet", "Die südwestdeutschen Landschaften"), um schließlich den somit gewonnenen Rheinlandbegriff historisch-kulturell verorten zu können. Das zweite von drei Hauptkapiteln ist mit "Gestaltende Kräfte" überschrieben und behandelt abschnittsweise chronologisch Lotharingien, die Metropolen Köln und Trier, "Die Rheinländer und die deutsche Nation" (im 14./15. Jahrhundert), "Humanismus und Reformation", "Die Territorien", "Die französische Zeit" sowie "Die Opposition gegen Preußen und Hitler." Das letzte der drei Hauptkapitel "Die Bonner Republik" behandelt mit Abschnitten über "Die Politik Konrad Adenauers", "Das Votum für Bonn" und "Einheit trotz Teilung" die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Basierend auf nicht weiter reflektierten Konzepten des Kulturraums, wie sie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden waren (bspw. Brepohl, Frings, Hansen, Petri, Steinbach, Wrede), entwirft Arnolds eine rheinische Idee mit politisch-herrschaftlichen Wurzeln im mittelalterlichen Lotharingien, dessen Bevölkerung eine als "Eigenbewusstsein, Eigenständigkeitsempfinden und Zusammengehörigkeitsgefühl ... klar fassbare[...] affektiv-emotionalen Haltung" (45) attestiert wird. Die zentrale rheinische Mission von Cusanus über den rheinischen Humanismus des 16. Jahrhunderts bis zu Konrad Adenauer und Joseph Kardinal Frings wird als katholisch-christlich verwurzelte religiöse Duldsamkeit, weltanschauliche Toleranz und liberale Gesinnung visioniert, wie sie etwa an dem tausend jährigen Kult des heiligen Arnold bei Arnoldsweiler (heute ein Stadtteil von Düren) sichtbar werde. In der Abwehr französischer Militärherrschaft der napoleonischen Ära, dann und vor allem aber unter preußischer Despotie seit 1815, pervers gesteigert in der NS-Diktatur, habe sich das Rheinische gleichsam im Kampf erst gegen den westlichen, dann den östlichen Nachbarn bewährt und gefestigt, um der frühen Bundesrepublik insbesondere durch die Person Konrad Adenauers den Weg nach Westeuropa zu weisen. Seit der Vereinigung der ehemaligen DDR mit der Bundesrepublik und dem Wiederaufstieg der Hauptstadt Berlin sei der rheinische Universalismus indes wieder in Gefahr: "Nach der Wahl Berlins verfochten sie [die Anhänger Preußens, FD] eine von völkischem Denken beeinflusste Ausländerpolitik." (108)
Obwohl die Vertreter der rheinischen Volkstumsforschung mit ihren Kulturraumkonzepten reichlich zitiert werden, grenzt sich Arnolds von völkischen Konzepten deutlich ab und konzipiert das Rheinland als "politische Erlebnis- und Bekenntnisgemeinschaft", dessen Zugehörigkeit nicht qua Geburt, sondern durch Teilhabe erworben werde. Unterlegt wird dies mit einer außerhalb des Rheinlandes vielleicht etwas verwirrenden Komposition aus Stellungnahmen von Wolfgang Niedecken und Heinrich Böll, Kardinal Meisner und Konrad Adenauer ("Adenauers Konzept ermöglichte eine unabhängige rheinische Politik, auch wenn die Verbindung mit dem übrigen Deutschland erhalten blieb" 101), um gleichzeitig wiederum Adam Wrede zu zitieren (74), dass die verschiedenen mittel- und niederfränkischen Länder am Rhein [im 18. Jahrhundert?] "eine Einheit [bildeten], die in ihren verschiedenen Richtungen weniger ihren Bewohnern bewusst als tatsächlich vorhanden war." [2] Nun denn.
So sei zu resümieren: "Während die Deutschen, auch dank der Politik Adenauers, schon seit mehr als zehn Jahren in einem gemeinsamen Staat leben, ist das Rheinland noch immer geteilt." (108) Das seit über einem Jahrtausend bestehende Kerngebiet des rheinischen Kulturraums um die Bischofsstädte Köln und Trier gehöre zwar zur deutschen Zivilisation, aber daraus ergebe "sich keinesfalls eine Zugehörigkeit zur deutschen Nation." (115) Arnolds schließt seine Streifzüge mit den bemerkenswerten Zeilen: "Auch die Rheinländer haben das Recht auf Wiedervereinigung, das Recht auf ihren eigenen Staat. Sollten sie es wünschen, bietet ihnen Art. 29 des Grundgesetzes dazu die Möglichkeit. Selbst die Bezeichnung 'Rheinische Republik' entspräche geltendem Recht, wie die deutschsprachige Form 'Freistaat' beweist. Ein rheinisches Bundesland müsste jedoch wesentlich mehr Rechte erhalten, als die Länder jetzt besitzen." (115)
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu Fritz Dross: Von der Erfindung des Rheinlandes durch die rheinische Landesgeschichte. Eine Polemik, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 23 (2005), 13-34.
[2] Adam Wrede: Rheinische Volkskunde, Leipzig 1922.
Willi Arnolds: Die Geschichte des Rheinlandes. Ein historischer Streifzug, Eupen: Grenz-Echo-Verlag 2005, 143 S., ISBN 978-90-5433-206-0, EUR 14,95
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