Schon von ihrem ersten öffentlichen Auftreten an war die Rezeption Georgia O'Keeffes eng an eine ausgeprägte Betonung ihrer Weiblichkeit und an eine extrem sexualisierte Deutung ihrer Bilder gebunden. Das Eigentümliche an der Konstruktion O'Keeffes als genuin weibliche Künstlerin ist jedoch die enge Verknüpfung mit dem Topos des Kindlich-Reinen und Intuitiven. Maßgeblich gesteuert wurde diese Inszenierung O'Keeffes durch ihren späteren Ehemann, den Fotografen und Kunstvermittler Alfred Stieglitz. Pyne legt nun eine Rekonstruktion der Genese dieses Vorstellungskomplexes vor, mit dem Stieglitz ein Modell für eine essenziell weibliche Version der künstlerischen Moderne entwickelte. Sie nimmt dabei auch zuvor nur wenig beachtete Künstlerinnen wie Gertrude Käsebier, Pamela Colman Smith und Anne Brigman in den Blick, die vor O'Keeffe von Stieglitz gefördert wurden. Auf diese Weise gelingt es Pyne, die postulierte Ausnahmestellung O'Keeffes in der amerikanischen Kunst zurückzunehmen und sie in Stieglitz' Suche nach einer "woman in art" (xxxii) einzubetten, an deren Ende die "phantom figure of the woman-child [...] possessed of an adult sexuality, yet energized by innocence" (xxxii) stand.
Pyne zeichnet diese Entwicklung ausgehend vom Einfluss James McNeill Whistlers auf die Photo-Secession nach. Deren Ästhetik war für die Etablierung der Fotografie als Kunstform von entschiedener Bedeutung. Whistler stellte den Fotografen des Stieglitz-Kreises mit der Figur des 'white girl' ein Paradigma von Weiblichkeit zur Verfügung, in dem sich Unschuld, Spiritualität und eine sublimierte, entkörperlichte Erotisierung miteinander verschränkten. In welchem Maße sich Stieglitz und seine Mitstreiter mit der Whistlerschen Poetik des "Weißen" identifizieren konnten, zeigt Pyne anhand der Fotografien Gertrude Käsebiers, der weiblichen Galionsfigur der Photo-Secession, in denen die weitgehend auf sich selbst bezogene, introspektive Figur des 'white girl' zu einer ihrer gesellschaftlichen Rolle bewussten Frau transformiert und so einem vorherrschenden Frauenbild angeglichen wird, das die Werte des Mütterlichen und Kultivierten propagiert.
Von diesem an den Wertvorstellungen der amerikanischen Mittelschicht orientierten Frauenbild verabschiedete sich Stieglitz um 1910 entschieden und wandte sich direkteren Ausdrucksformen der Sexualität zu, etwa in seinen Ausstellungen von Rodin- und Matisse-Zeichnungen. Den Bruch mit dem älteren Weiblichkeitsverständnis zeichnet Pyne in Stieglitz' Hinwendung zu den Aktfotografien Anne Brigmans nach. Das in den Fotografien choreografierte symbiotische Verhältnis zwischen Frau und ungebändigter Natur liest sie vor dem Horizont der Ideen, die in den Bohème-Zirkeln von Greenwich Village kursierten und die auch Stieglitz' Vorstellung künstlerischen Schaffens eminent beeinflussten. Henri Bergsons vitalistische Philosophie, die Freudsche Psychoanalyse und die Theorien des Sexualwissenschaftlers Havelock Ellis lokalisierten die Quellen künstlerischer Kreativität in Bereichen, die eher weiblich konnotiert wurden, sei es in der Intuition, den unbewussten sexuellen Trieben oder dem Körperlichen. Auf diese Weise konnte der geschlechtlich markierte weibliche Körper zum zentralen Ort erklärt werden, von dem aus nicht nur die künstlerische Moderne neu zu denken war, sondern auch gesellschaftliche Gegenmodelle entwickelt werden konnten, die sich vom puritanischen Wertekosmos abkoppelten und die gesellschaftlich akzeptablen Definitionen von Sexualität um Bereiche jenseits des Reproduktionszwangs erweiterten. Die in dramatischen Posen dargestellten Frauenakte Brigmans konnten, ähnlich dem Tanz der Isidora Duncan, als ein zweifacher "act of feminine self-embodiment" (xxxiv) dienen: als Ausdruck emanzipatorischer Bemühungen einerseits wie als Modelle der Theatralisierung und Übersetzung der eigenen Seelenlandschaft in die äußere Natur und ins Kunstwerk hinein. Auf diese Weise entsprachen sie genau Stieglitz' Konzept vom Kunstwerk als Ausdrucksträger seelischer und körperlicher Regungen.
Pyne entfaltet das Feld der sexuellen Politik der amerikanischen Moderne in beeindruckender Weise. Sie lotet seine Einflüsse auf Stieglitz' Denken aus, beleuchtet seine Auswirkungen auf die künstlerischen Entwürfe der von Stieglitz protegierten Künstlerinnen und rekonstruiert das Verhältnis zwischen ihnen und ihrem Mentor. Eine konzeptionelle Schwäche der Studie ist jedoch, dass das modernistische Ideal, nach dem das Leben in Kunst übergeht und sich das Selbst des Künstlers in seinem Werk manifestiert, methodisch übernommen wird. Dies verengt die Interpretation des reichen Bildmaterials auf eine Belegfunktion für die persönlichen Einstellungen der Künstlerinnen in der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Modernität und Geschlechterfrage. Eine Konsequenz dieses biografisch-psychologisierenden Ansatzes ist, dass Pyne auch zeitgenössische Denkfiguren in ihre Darstellung übernimmt. So werden etwa die gängigen Dichotomien im Geschlechterdiskurs, die auf Oppositionen wie männlich/weiblich, Natur/Kultur oder Körper/Geist beruhen, weiter getragen und fließen in die Interpretation ein. Ärgerlich ist zudem, dass Pyne Strukturen des psychoanalytischen Dramas, das für die Protagonisten zweifellos von Bedeutung war, in ihre Erzählung einbaut. So wird etwa Stieglitz' Verhältnis zu O'Keeffe in den ersten Jahren ihrer Beziehung zu einem "return to the maternal space" (xxxi) erklärt. Und in einer der Fotografien von O'Keeffe aus Stieglitz' composite portrait will Pyne eine "maternal relation to her works" (223) entdecken.
Als entscheidender Schritt in der Entwicklung des woman-child-Topos erweist sich die Überblendung des Bildes der Frau als naturnahes und intuitives Wesen mit der auch von Stieglitz geteilten zeittypischen Faszination für die kindliche Bildsprache. Den unschuldigen Blick des Kindes über den Begriff der Authentizität mit dem Weiblichen zu verbinden, ist in der Tat ein rein amerikanisches Phänomen, das sich deutlich von der europäischen Pathologisierung der Sexualität absetzt. Die resultierende Figur eines woman-child, in dem sich der Diskurs des Kindlich-Reinen mit dem erotisierten Blick auf die Frau kreuzen, bleibt somit auch unübersetzbar und ist keineswegs mit dem Topos der Kindfrau gleichzusetzen; sie ähnelt eher Mignon als Lolita. Dass Stieglitz zusammen mit seinen Hauskritikern das öffentliche Bild O'Keeffes nach diesem Modell konstruierte, ist hinlänglich bekannt. [1] Allein seine Bewertung und O'Keeffes Rolle bei seiner Entstehung sind der zentrale Streitfall in der Forschung, die O'Keeffe entweder zum Opfer männlicher Kritik stilisiert [2] oder ihre Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten als weibliche Künstlerin in einer vorherrschend männlichen Umgebung auslotet. [3]
Pynes zentrale These, O'Keeffe habe lediglich die Erotisierung ihrer Arbeiten abgelehnt, während sie "the intuitive child part of Stieglitz' woman-child figure as her alter ego" (244) akzeptierte, stützt sich auf einige Arbeiten aus dem Jahr 1917, in denen die Künstlerin mit einer kindlichen Bildsprache experimentiert, bleibt jedoch im Großen und Ganzen einer immer noch vorherrschend biografisch argumentierenden O'Keeffe-Forschung verhaftet. Jenseits der zuerst von Anne M. Wagner gestellten Frage, ob ein biografischer Zugang gerade zum Werk O'Keeffes nicht immer fragmentarisch bleiben muss und ob der Rekurs auf ihre Äußerungen überhaupt als privilegierter Zugang zu ihrem Werk benutzt werden kann [4], bleibt die Frage, ob es nicht versprechender gewesen wäre, die komplexen Funktionsweisen der Rhetorik des Kindhaften innerhalb des Stieglitz-Kreises zu untersuchen, in die auch männliche Künstler wie Arthur Dove, Marsden Hartley, John Marin und Stieglitz selbst einbezogen waren. Auch scheint die Komplexität des künstlerischen Dialogs zwischen Stieglitz und O'Keeffe ihre Darstellung als woman-child in Teilen zu unterlaufen: In seinem composite portrait, einem Projekt der fortwährenden Annäherung an sein Gegenüber wie an sich selbst, entwirft Stieglitz ein Bild von O'Keeffe, das keinen gängigen Weiblichkeitsidealen zuzuordnen ist und zunehmend androgyne Züge bekommt. Tendenziell löst sich hier die strenge Dichotomie der Geschlechter auf. Unberücksichtigt bleibt auch, dass Stieglitz nicht nur unablässig die Weiblichkeit von O'Keeffe betont, sondern sich auch mit ihr identifiziert. Für ihn ist sie "a purer form of myself". [5]
Die Stärke von Pynes Studie liegt in der sorgfältigen Rekonstruktion der Genealogie des woman-child-Topos. Das Potenzial, das sich aus den Taktiken seiner Anwendung und seiner Überschreitungen im gender-trouble-Spiel ergibt, bleibt dagegen ungesehen.
Anmerkungen:
[1] Ines Lindner: Medium - Geschlecht - Moderne. Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz, in: Renate Berger (Hrsg.): Liebe Macht Kunst. Künstlerpaare im 20. Jahrhundert, Köln / Weimar u. a. 2000, 227-247.
[2] Anna Chave: O'Keeffe and the Masculine Gaze, in: Art in America 78 (1990), Heft 1, 115-125 und 177-179.
[3] Barbara Buhler Lynes: O'Keeffe, Stieglitz and the Critics, 1916-1929, Ann Arbor / London 1989; Marcia Brennan: Painting Gender, Constructing Theory. The Alfred Stieglitz Circle and American Formalist Aesthetics, Cambridge, MA / London 2001; Jay Bochner: An American Lens. Scenes from Alfred Stieglitz' New York Secession, Cambridge, MA / London 2005.
[4] Anne Middleton Wagner: Three Artists (Three Women). Modernism and the Art of Hesse, Krasner and O'Keeffe, Berkeley / Los Angeles u. a. 1996.
[5] Arthur Stieglitz in einem undatierten Brief an Arthur Dove, zitiert nach Barbara Buhler Lynes: O'Keeffe, Stieglitz and the Critics, Chicago 1991, 32.
Kathleen Pyne: Modernism and the Feminine Voice. O'Keeffe and the Women of the Stieglitz Circle, Oakland: University of California Press 2007, xxxix + 339 S., ISBN 978-0-520-24190-9, GBP 19,95
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.