Was macht ein Werk zu einem Klassiker? Die Antwort der Herausgeber auf diese Frage lautet: Dass die genannten Werke bis heute Bestand oder eine Debatte angestoßen haben, welche maßgeblich zur Weiterentwicklung des Fachs beigetragen hat. "Dauerhaftes, Richtungsweisendes, Bahnbrechendes oder Herausforderndes zu identifizieren" sei eine zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaft. [1] Zur Diskussion einladen möchten die am Postdamer Zentrum für Zeithistorische Studien tätigen Historiker mit diesem Band, der mit einem Kanonisierungsvorschlag auf die grundsätzliche Offenheit einer Disziplin reagiert, deren Zäsuren beständig neu zu verhandeln sind.
50 zwischen 1941 und 2002 erschienene zeithistorische Studien und ihre Rezeptionsgeschichte werden in dem vorliegenden Sammelband vorgestellt, der dem langjährigen Direktor des Zentrums Konrad H. Jarausch gewidmet ist. Ein Format, das Lesern der "Zeithistorischen Studien" bekannt vorkommen muss. "Neu gelesen" nennt sich dort die Rubrik mit Besprechungen älterer Werke, die viele Jahre nach ihrem erstmaligen Erscheinen erneut auf den Prüfstand gestellt werden.
Der Leser kann keine Auswahl "historiographischer Bestseller" erwarten. Von Joachim Fests Hitler-Biografie einmal abgesehen, die in der Tat seit ihrem Erscheinen in den siebziger Jahren zum Publikumserfolg avancierte, haben die vorgestellten Werke in der Regel nur bescheidene Auflagenziffern erreicht. Die Herausgeber selbst weisen in ihrem Vorwort darauf hin, dass die versammelten Titel zwar die wesentlichen Schwerpunkte der deutschen Zeitgeschichtsforschung abbilden, zugleich aber eine subjektive Auswahl darstellen: "Jeder Zeithistoriker trägt seine eigene Bibliothek der Zeitgeschichte im Kopf, die ihn geprägt hat, und es wäre so vermessen wie aussichtslos, gleichsam einen walk of fame der zeithistorischen Forschung erstellen zu wollen. Die hier getroffene Auswahl ist nicht zuletzt von den Lektüre-Erfahrungen der Herausgeber und Autoren geprägt, andererseits aber nicht völlig beliebig." [2]
Der Band versammelt zahlreiche Werke, die die Erforschung der jüngsten deutschen Geschichte entscheidend geprägt haben. So haben die von Zeitgenossen der braunen Diktatur wie Ernst Fraenkel, Hans Rothfels und Karl Dietrich Bracher vorgelegten Studien die Erforschung der nationalsozialistischen Zeit in ihren Anfängen maßgeblich beeinflusst. Zum Verständnis der Werke nachfolgender Zeithistoriker bleiben sie, wie insbesondere Armin Nolzen am Beispiel von Brachers Standardwerk zur Machtübernahme (1960) überzeugend darzulegen vermag, oftmals weiterhin unverzichtbar. Gerade für die ersten beiden Jahrzehnte deutscher Zeitgeschichtsforschung nach 1945 scheint die Identifizierung klassischer Titel unstrittig zu sein. Wie viel schnelllebiger die historiografischen Theorien und Trends seitdem geworden sind, veranschaulicht der Beitrag über die Bielefelder "Sonderwege" in die Moderne (1975): Kaum mehr vorstellbar heute, wie viel Aufregung in den siebziger Jahren Wehlers Vorschlag auslösen konnte, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft zu konzipieren.
Das bekannte Standardwerk Martin Broszats zum "Staat Hitlers" steht beispielhaft für eine ganze Reihe von "Klassikern", deren Autoren inzwischen selbst zum Gegenstand historischer Forschung geworden sind. Die Ergebnisse der mit dem Frankfurter Historikertag von 1998 verstärkt einsetzenden Debatte über Historiker im Nationalsozialismus haben in zahlreiche der vorliegenden Beiträge Eingang gefunden: Vor diesem Hintergrund erschließt Jan Eckel die Aktualität der von Hans Rothfels vorgelegten Deutungsangebote (1949), diskutiert Christoph Kleßmann differenziert Anspruch und Wirklichkeit der "Dokumentation der Vertreibung" (1953-62), erläutert Klaus Große Kracht auf nur wenigen Seiten überzeugend die Kontroverse um Fischers "Griff nach der Weltmacht" (1961). Eingelöst wird damit nicht zuletzt der Anspruch auf einen "Beitrag zur beginnenden Selbsthistorisierung der deutschen Zeitgeschichte" [3], den die Herausgeber eingangs formuliert haben.
Einige kleinere Irritationen bleiben am Ende bestehen: Kann eine zeithistorische "Klassiker"-Sammlung tatsächlich vollständig auf die Arbeiten von Hans Mommsen verzichten, der viele wegweisende Texte in Aufsatzform vorgelegt hat? Ist es sinnvoll, schon jetzt darüber zu spekulieren, welche der in den neunziger Jahren vorgelegten Interpretationen der NS-Zeit langfristig in den Status von Klassikern erhoben werden können? Und ist die Fülle der hier aufgeführten Literatur zur Geschichte der DDR tatsächlich repräsentativ für die Mehrzahl der zeithistorischen Bibliotheken in den Köpfen (west-)deutscher Historiker?
Die Gesamtbilanz fällt dennoch uneingeschränkt positiv aus: Die Fülle der Spezialliteratur ist in der Zeitgeschichte gerade für Studienanfänger kaum noch zu überschauen, und das Internet scheint jedem, der auf der Flucht ist vor den unzähligen bibliographischen, biografischen und anderen Hand- und Jahrbüchern, einen bequemen Ausweg anzubieten. Mit den "50 Klassikern" reagieren die Herausgeber auf dieses zunehmend stärker werdende Orientierungsbedürfnis und empfehlen ihr Sammelwerk damit auch als Lehrbuch, dessen von ausgewiesenen Fachleuten verfasste Beiträge eine Vielzahl überraschender Einsichten und pointiert vorgetragener Neuinterpretationen vermitteln. [4]
Anmerkungen:
[1] Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hgg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, 11.
[2] Ebenda, 13.
[3] Ebenda.
[4] Danken möchte ich den Teilnehmern der Übung zur Geschichte der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, die sich im Sommersemester 2007 auf die Lektüre und Diskussion der "50 Klassiker" eingelassen haben.
Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hgg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 247 S., ISBN 978-3-525-36024-8, EUR 19,90
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