Die Sainte-Chapelle in Paris darf man unter vielerlei Gesichtspunkten näher in den Blick nehmen: zunächst und vor allem als den spektakulärsten Bau, den Ludwig der Heilige in Auftrag gegeben hat, als Hülle und Bühne für Reliquien, darunter die bekanntermaßen sündhaft teure Dornenkrone, als Ort der Königsmemoria und als Allusion auf Jerusalem - oder etwa als Beginn der französischen Eisenarchitektur. [1] Die Westfassade fand dagegen weniger Aufmerksamkeit [2], und auch ihr Rosenfenster stand nicht eben im Mittelpunkt der Betrachtung. Im entsprechenden Korpusband des CVMA sind noch nicht einmal alle Scheiben abgebildet. [3] Vor allem Fragen der Zuschreibung und der Rekonstruktion bzw. Kontextualisierung von Künstlerœuvres hat man hier in den letzten Jahren diskutiert. Sie verbinden sich mit den Namen Jean d'Ypres als älterem Sohn des Malers Colin d'Amiens, dem Meister des Dreux Budé und dem Coëvity-Meister. Je nach Forschungsinteresse ist als Autor der Rose der Meister der (New Yorker) Einhornjagd, der "Meister der Très petites heures der Anne de Bretagne", der "Meister des Lebens des Täufers" oder eben Jean bzw. André d'Ypres in Anspruch genommen worden. [4] Die Diskussionen repräsentieren den Stand kunsthistorischer Kennerschaft auf allerhöchstem Niveau, dennoch überzeugt die skeptische Grundhaltung, mit der sich Ina Nettekoven einer im Kern künstlerbiografisch argumentierenden Wissenschaft letztlich verweigert.
Zunächst wird die im Durchmesser 9,05 Meter große Rose ausführlich verhandelt. In den Blick genommen werden ihre Ikonografie, die erste Vision des Johannes nach Offenbarung 1f. ohne jedes erzählerische Beiwerk wie etwa die Johannesvita, und der Ursprung des Bilderzyklus: verschiedene Blockbuch-Apokalypsen und gewiss auch die Tapisserien von Angers. Der erste Abschnitt der Arbeit umfasst zudem einen konzisen Überblick zu Karl VIII. und der Pariser Kunst um 1490. Man darf die Rose demnach mit einiger Sicherheit als Auftrag Karls VIII. ansehen, obwohl streng genommen in seiner schriftlichen Anweisung vom 15. Januar 1485 nur die Rede davon ist, dass man die Sainte-Chapelle, die zu einer Ruine zu werden drohte, instand setzen möge. Genannt werden lediglich "réparations nécessaires". In jedem Falle schreibt sich der französische König auch persönlich mit Wappen und Monogramm in die Rose ein, er setzt mit dieser Bildstrategie die monarchischen Intentionen Ludwigs des Heiligen als erstem Stifter der Sainte-Chapelle fort.
Durch diese neue Sicht eröffnen sich Spielräume für die zeitliche Ansetzung des Fensters und für die Interpretation: Keineswegs sicher ist nach Nettekoven, dass die vorgängige Rose jene überraschend wie ungewöhnlich schlichte, achtblättrige Grundform zeigte, wie es die Darstellung in der Kalenderminiatur des Monats Juni der Très Riches Heures des Herzogs von Berry suggeriert. Ebenfalls ungewiss muss ihre Ikonografie bleiben: Das Thema der Apokalypse wäre als Glasmalerei an einer Westfassade des 13. Jahrhunderts vollkommen ungewöhnlich, in der Skulptur findet es sich lediglich in Reims. Dementsprechend darf man die neue Rose nicht nur als Modernisierung oder Instandsetzung verstehen - man vergleiche etwa den Auftrag des Jahres 1451/52 an Robin André, Glasfenster an der Kathedrale von Angers zu erneuern, "comme autre foiz a esté". [5] Und wenn man die Pariser Rose mit Nettekoven ein paar Jahre später datierte, dann ließe sie sich überzeugend mit den Planungen Karls VIII. für einen Kreuzzug und seinen Ansprüchen auf den Titel eines Königs von Jerusalem verbinden (106f.) - die Sainte-Chapelle würde damit neuerlich auf Jerusalem Bezug nehmen.
Die weiteren Abschnitte der Arbeit widmen sich vermittels der Stilanalyse der Werkstatt und dem Umfeld des "Meisters der Apokalypsenrose" (nach einer präzisen und sprachlich äußerst gewinnenden Charakterisierung seines Stils auf 30f.): Eindrucksvoll wird hier vollkommen plausibel eine Gruppe von Entwürfen für Pariser Glasfenster, Handschriften, Hunderte von Grafiken, Tapisserien sowie Wandmalereien, etwa das stark übergangene Wandbild der Wurzel Jesse in der Pariser Kirche Sainte-Séverin, zusammengestellt. Damit ist - und dies weit über das gängige "on-dit" hinaus - für die zukünftige Forschung die Grundlage gelegt. Mit der Dissertation von Ina Nettekoven wird nicht lediglich ein Pariser Atelier rekonstruiert, das gattungsübergreifend tätig war, durchaus ökonomisch mit seinen Bildentwürfen als Vorlagen für die verschiedensten Kunstwerke operierte, und das die Kunstproduktion in der Stadt bis in das frühe 16. Jahrhundert weitgehend bestimmt hat; auch viele neue Fragestellungen werden möglich: Einmal mehr lässt sich das Verhältnis von Auftraggebern und Künstlern erhellen, die Möglichkeiten einer Organisation von Künstlerwerkstätten im Frankreich der Frühen Neuzeit erhalten neue Konturen, und weiteres Material gewinnt man für die Frage nach der Modernisierung bzw. Erneuerung von Kunstwerken im Mittelalter - ein durchaus spannendes Thema für übergreifende Forschungsansätze.
Die Abbildungen im Buch könnten zum Teil etwas knackiger sein, doch bereits ihre schiere Zahl nötigt höchsten Respekt ab, berücksichtigt man Aufwand und Kosten, die sich mit der Beschaffung der Vorlagen verbinden.
Anmerkungen:
[1] Man vgl. nur den jüngst in zweiter Auflage erschienenen Prachtband von Jean-Michel Leniaud und Françoise Perrot: La Sainte-Chapelle, Paris 1991 sowie Christine Hediger (Hg.): La Sainte-Chapelle de Paris. Royaume de France ou Jérusalem céleste. Actes du Colloque Paris, Collège de France 2001 (= Culture et société médiévales. Collection dirigée par Edina Bozoky; 10), Turnhout 2007.
[2] Eine Ausnahme bildet Matthias Müller: Paris, das neue Jerusalem? Die Sainte-Chapelle als Imitation der Golgatha-Kapellen, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 59 (1996), 325-336. Der vorzügliche Aufsatz wurde meines Wissens von der Forschung bislang nicht berücksichtigt.
[3] Marcel Aubert / Louis Grodecki / Jean Lafond / Jean Verrier: Les Vitreaux de Notre-Dame et de la Sainte-Chapelle de Paris (= Corpus Vitrearum Medii Aevi. France; 1), Paris 1959, 310-328 (Jean Lafond).
[4] Philippe Lorentz: La Peinture à Paris au XVe Siècle: un Bilan (1904-2004), in: Ausst.-Kat. Primitifs Français. Découvertes et Redécouvertes. Musée du Louvre 27.2.-17.5.2004, Paris 2004, 86-107, hier 102.
[5] Françoise Perrot: La Rose de la Sainte-Chapelle, in: La Sainte Chapelle de Paris 1991 (wie Anm. 1), 197-210, hier 198.
Ina Nettekoven: Der Meister der Apokalypsenrose der Sainte Chapelle und die Pariser Buchkunst um 1500, Turnhout: Brepols 2005, viii + 296 S., 60 colour ill., 170 b/w ill., ISBN 978-2-503-52195-4, EUR 90,00
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