sehepunkte 8 (2008), Nr. 10

Rezension: Rechtsgeschichte und Interkulturalität

Der Sammelband bietet Beiträge zu einem interdisziplinär ausgerichteten Kolloquium, das am 13. und 14. Oktober 2005 in Innsbruck stattgefunden hat. Thematisiert werden Einflüsse des Alten Orients und Ägyptens auf Rechtsdenken und Rechtspflege in Griechenland sowie wechselseitige Abhängigkeiten im östlichen und südöstlichen Mittelmeerraum und im "entstehenden Europa".

Schafik Allam erörtert das Problem der "Persona ficta im Stiftungswesen pharaonischer Zeit" (1-29) im Rahmen des Totendienstes, indem er ausführlich die "juristische Struktur" der Stiftungen erläutert, mit denen Ägypter eine Vernachlässigung der Zeremonien, die ihnen nach ihrem Ableben geschuldet wurden, zu verhindern suchten.

In einem umfangreichen Aufsatz "Zum Umgang mit Rechtskollisionen im archaischen Griechenland" (31-115) behandelt Heinz Barta Probleme, die sich aus dem Nebeneinander von zahlreichen Poleis mit eigenen Rechtsordnungen ergaben. Hierzu zählten Sachverhalte wie Rechts- und Seehandelsgeschäfte, Heiraten und Erbschaften über Grenzen hinweg und Fragen der Wohnsitz- und Aufenthaltsberechtigung. Für den Historiker interessant ist vor allem Bartas Stellungnahme zur Diskussion über eine gegenseitige Beeinflussung von Kolonisation und Polisbildung. Er vertritt mit Recht die Auffassung, dass in den Anfängen der Großen Kolonisation der Griechen noch keine offiziellen Beschlüsse für eine Aussendung von Kolonistenzügen zu erwarten sind, da die griechischen Siedlungsgemeinschaften noch vorstaatliche Gesellschaften waren. Dies treffe aber etwa für die Gründung von Kyrene (um 630) nicht mehr zu. Er verweist dazu auf den in einer Inschrift in Kyrene zitierten 'Gründungspakt', den die aus Thera entsandten Kolonisten und die zurückbleibenden Theraier angeblich beeidigen mussten. Der Text stammt aber aus dem 4. Jahrhundert vor Christus, und es ist keineswegs sicher, ob in Thera um 630 eine Volksversammlung die Kompetenzen einer regulären Institution mit fixierten Beschlussrechten besaß. [1]

Hans Neumann untersucht einheimische Tradition und interkulturell bedingten Wandel in den babylonischen Rechtsverhältnissen der hellenistischen Zeit (117-134). Nach einem dankenswerten Überblick über die Forschungsdiskussion zu seinem Thema legt er dar, dass die Entwicklung der Rechtspraxis in "Babylonien" in hellenistischer Zeit von einem weit älteren Recht beeinflusst war und altorientalische Herrscher kein uneingeschränktes Eigentumsrecht am Boden besaßen.

Ein weites Feld bearbeiten Robert Rollinger und Herbert Niedermayr in ihrem Beitrag "Von Assur nach Rom. Dexiosis und 'Staatsvertrag' - Zur Geschichte eines rechtssymbolischen Aktes" (135-178), indem sie zunächst zeigen, dass auf einem Thronpodest der assyrische König Salmanassar III. rechts positioniert ist und hierdurch sein höherer Rang gegenüber dem babylonischen König Marduk-zākir-šumi betont wird. Eine vergleichbare Symbolik erkennen die Autoren in Dexiosis-Darstellungen römischer Münzen, auf denen die dominierende Person durch diese Positionierung hervorgehoben wird.

Die Beschreibung eines "Gerichtsverfahrens" in der homerischen Schildbeschreibung (Ilias 18,497-508) behandelt Gerhard Thür ("Der Reinigungseid im archaischen griechischen Rechtsstreit und seine Parallelen im Alten Orient", 179-195). Er vermutet, dass hier "die älteste Form der staatlichen Gerichtsbarkeit in der griechischen Polis" dargestellt wird (190). Die gerontes und der istor sind aber in der betreffenden Szene schwerlich als reguläre Institution mit fixierten Kompetenzen zu verstehen. Die epischen Dichter beschreiben offenbar noch Verhältnisse in einer vorstaatlichen Gesellschaft.

In der abschließenden Abhandlung äußert Ingomar Weiler unter dem Obertitel "Hellas und der Orient" gedankenreiche "Überlegungen zur sozialen Mobilität, zu Wirtschaftskontakten und zur Akkulturation" (197-216). Er bietet hierbei auch einen informativen Überblick über methodologische und terminologische Fragen in vergleichenden Untersuchungen zum Austausch von Gütern und Ideen im Rahmen der kulturellen Kontakte zwischen dem Orient und Griechenland. Überzeugend ist Weilers Fazit, dass ein heute noch bedeutsames Erbe der griechischen Kultur "Wurzelgrund und nährende Elemente in der kontinuierlichen Gesamtheit einer nahöstlich-mediterranen Koiné" gefunden hat (213).

Mit dieser Formulierung lässt sich auch der Ertrag des gesamten vorliegenden Bandes treffend zusammenfassen.


Anmerkung:

[1] Vgl. Frank Bernstein: Konflikt und Migration. Studien zu griechischen Fluchtbewegungen im Zeitalter der sogenannten Großen Kolonisation, St. Katharinen 2004, 219.

Rezension über:

Robert Rollinger / Heinz Barta (Hgg.): Rechtsgeschichte und Interkulturalität. Zum Verhältnis des östlichen Mittelmeerraums und "Europas" im Altertum (= Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen; Bd. 19), Wiesbaden: Harrassowitz 2007, 240 S., ISBN 978-3-447-05630-4, EUR 68,00

Rezension von:
Karl-Wilhelm Welwei
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Wilhelm Welwei: Rezension von: Robert Rollinger / Heinz Barta (Hgg.): Rechtsgeschichte und Interkulturalität. Zum Verhältnis des östlichen Mittelmeerraums und "Europas" im Altertum, Wiesbaden: Harrassowitz 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 10 [15.10.2008], URL: https://www.sehepunkte.de/2008/10/14441.html


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