Die Geschichte des Körpers gehört zu den aktuellen Themen der Kulturwissenschaften, da sich diese seit einigen Jahrzehnten verstärkt für die materiellen und existentiellen Grundlagen menschlichen Daseins interessieren. Jacques Le Goff schrieb kürzlich in einer zusammenfassenden "Geschichte des Körpers im Mittelalter" über den Gegenwartsbezug des Themas: "Heutzutage ist der Körper Tummelplatz der modernen Metamorphose: Von der Genetik bis zu den bakteriologischen Waffen, von der Behandlung und Bekämpfung der modernen Seuchen bis zu den neuen Herrschaftsformen bei der Arbeit, vom Moderummel zu den neuen Ernährungsformen, vom Schlankheitswahn bis zur Fettleibigkeit, von der sexuellen Befreiung zur modernen Entfremdung - der Umweg über die Geschichte des Mittelalters kann dazu dienen, unsere Zeit etwas besser zu verstehen". [1] Eine solche genealogische Betrachtungsweise wird viele kulturwissenschaftlich arbeitende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht ganz zufrieden stellen. Immerhin ist Le Goffs Beschäftigung mit dem Thema ein Beleg dafür, dass der Körper und seine Geschichte seit einigen Jahren ein zentrales Thema der historisch arbeitenden Wissenschaften darstellen, hat sich der bekannte französische Mediävist doch in den letzten Jahren vom Trendsetter zu einem Autor gewandelt, der die großen Themen der Zeit erfolgreich einem breiten Publikum näherbringt.
Zu den verschiedenen Körperdiskursen trat in den letzten Jahren auch die medienanthropologische oder bildwissenschaftliche Sichtweise. Im deutschsprachigen Raum bildet das DFG-Graduiertenkolleg "Bild. Körper. Medium. Eine anthropologische Perspektive" der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe einen institutionellen Mittelpunkt dieser Forschungsrichtung. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht die enge Verbindung von Körper und Bild, also die bildliche Wiedergabe oder literarische Imagination des menschlichen Körpers als Projektionsfläche für religiöse, politische und soziale Praktiken und Inszenierungen. Gefragt wird nach den vorherrschenden Körpervorstellungen in den Bildern sowie nach den unterschiedlichen Funktionen der bildlich dargestellten Körper. Denn am menschlichen Körper als Ausdruck symbolischer Ordnung wurden - so die zugrunde liegende These - wesentliche anthropologische, erkenntnistheoretische und moralische Fragen der Zeit diskutiert. Diese Fragen nach den wechselseitigen Verflechtungen von Bild und Körper im späten Mittelalter werden im vorliegenden Sammelband erstmals in einem breiten Rahmen diskutiert. Die 16 Beiträge sind das Ergebnis einer Tagung, die im Jahr 2003 vom oben erwähnten DFG-Graduiertenkolleg organisiert wurde.
Auf der Suche nach dem Verhältnis von Körper und Bild im Spätmittelalter nehmen die Autorinnen und Autoren sehr unterschiedliche Produkte künstlerischen Schaffens in den Blick. Der Fragestellung gemäß erhält die Malerei die größte Aufmerksamkeit - sowohl die Tafel- wie auch die Buchmalerei. Daneben werden aber auch die Portal- und die Grabskulptur, der Schreinaltar sowie literarische Texte berücksichtigt. Ebenso vielfältig wie die materiellen Untersuchungsobjekte sind die Fragen, die um das Verhältnis zwischen Körper und Bild kreisen. Zunächst wird das Bild in seiner Materialität als eigener Körper interpretiert - versinnbildlicht in der Schreinmadonna, die als körperhaftes Bildmedium die Rolle Marias als Gottesmutter gleichnishaft aufgreift, sowie in den Umfassungsfiguren von Diagrammen, der der Visualisierung und Autorisierung von theologischen, sozialen und naturkundlichen Ordnungen dienen. Stilanalytische, ikonografische und rezeptionsästhetische Fragen werden in den folgenden Absätzen anhand von ausgewählten Kunstobjekten diskutiert. Ausgangspunkte der Überlegungen bilden beispielsweise die Seitenwunde Christi in spätmittelalterlichen Andachtsbüchern, Menschenbilder im Rosenroman, die Begräbnisskulpturen des englischen Königs, die Wahrnehmung der Körper bestimmter Heiliger oder der Umgang mit Reliquien und ihren Darstellungen.
Die einzelnen Fallstudien diskutieren immer wieder auch allgemeine Fragen nach den vorherrschenden Körperkonzepten und -theorien. Im späten Mittelalter hingen diese Fragen untrennbar mit der christlichen Anthropologie zusammen: "Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde und seiner Ähnlichkeit, doch durch den Sündenfall hat der Mensch die Ähnlichkeit verloren, das Bild aber bewahrt. Wir sind Trugbilder geworden. Wir haben die moralische Existenz verloren, um in eine ästhetische Existenz einzutreten" (9, Zitat Gilles Deleuze). Dieses Spannungsverhältnis innerhalb der christlich-abendländischen Bildproduktion wird von den Herausgebern in ihrer Einleitung anschaulich dargestellt und von den Autoren in den einzelnen Beiträgen facettenreich diskutiert. Die Sprache der bildwissenschaftlichen Expertinnen und Experten ist für den mit diesem Diskurs nicht vertrauten Leser bisweilen nicht leicht verständlich. Dass sich die Mühe lohnt, wurde offenbar von der Forschung erkannt. Der Sammelband, der durch zahlreiche Schwarz-Weiß-Illustrationen und ein Autorenverzeichnis ergänzt wird, wurde bereits stark rezipiert, so dass im vergangenen Jahr 2008 eine zweite, korrigierte Fassung erscheinen konnte.
Anmerkung:
[1] Jacques Le Goff / Nicolas Truong: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter, Stuttgart 2007, 37.
Kristin Marek / Raphaèle Preisinger / Marius Rimmele u.a. (Hgg.): Bild und Körper im Mittelalter, München: Wilhelm Fink 2006, 350 S., ISBN 978-3-7705-4319-9, EUR 39,90
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