1910 wird am Rand der bayerischen Kleinstadt Neuburg an der Donau der "Luisentempel", ein Aussichtspavillon zur Erinnerung an die preußische Königin und die "napoleonische Besetzung 1812-1815 [sic!]" errichtet. [1] Tatsächlich aber war von den "Befreiungskriegen" in Neuburg nichts zu bemerken. Bis Mitte November 1813 blieb es "ruhig", wie die halboffizielle Stadtchronik belegt, die der Sekretär des lokalen historischen Vereins in den 1830er Jahren verfasste. Nach dem bayerischen Seitenwechsel schickte der Magistrat zwar eine Dankadresse an den König "wegen der Befreiung von dem französischen Joche", vor allem aber wohl "wegen Beseitigung der Bangigkeit und Furcht, worin wir über die [sic] Zukunft schwebten." Frankreich war hier nie das ausgemachte 'Vaterland der Feinde'; 1796 fürchteten laut Chronik die Neuburger trotz des bayerisch-österreichischen Bündnisses "die Zurückkunft der Kaiserlichen mehr als die Ankunft der Franzoßen." [2]
Der vorliegende Sammelband liest sich wie ein vielstimmig-erläuternder Kommentar zu dieser und einer Reihe ähnlicher, fallweise erst zu hebender Quellen, in denen die Erfahrung des Umbruchs um 1800 zur Sprache kommt. In Süddeutschland unterlagen diese Stimmen nach 1815, nicht zuletzt durch den norddeutsch-preußischen "Mythos vom Befreiungskrieg" bedingt, nämlich einem umfassenden Prozess der Umdeutung, der seit einiger Zeit zur Dekonstruktion ansteht. Ute Planert hat nach ihrer nachgerade enzyklopädischen Studie über süddeutsche Kriegserfahrungen [3] jetzt einen breit angelegten Band herausgegeben, der eine Tagung des Tübinger Sonderforschungsbereichs 437 "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" vom März 2004 dokumentiert: In vier Sektionen (I: Herrschaft und Eliten; II: Ländliche Gesellschaft; III: Religiöse Kriegsverarbeitung und konfessionelle Differenzen; IV: Deutungen und Tradierungen) werden 16 Einzelstudien präsentiert und in sektionsspezifischen Kommentaren gebündelt, die zumeist das zentrale Leitmotiv des Sammelbands variieren, dass nämlich "post festum verfasste Erinnerungen nicht als Quellen für die erzählte Zeit, sondern für die Entstehungsperiode aufzufassen sind." (22)
Insofern kulminiert der Band konzeptionell folgerichtig in seinen letzten Beiträgen: Claudia Ulbrich und Julia Murken zeigen, wie veränderte Geschlechtercodes die Wahrnehmungsmuster der Umbruchszeit - die nun als fremd und verstörend empfunden werden - umdeuten und einem neuen Männlichkeitsideal unterwerfen. Wolfgang Burgdorf wartet mit der zugespitzten These auf, dass es die Tabuisierung der jüngeren 'National'-Geschichte zwischen 1789 und 1813 war, welche die Deutschen die kollektive Flucht ins Mittelalter antreten ließ; Preußen verdrängte so zudem sein Arrangement mit Frankreich 1795 und seinen Anteil am Untergang des Alten Reiches. Folgende Frankophobie, "systematische Diffamierung des Alten Reiches" und Konzentration auf die (mittelalterliche) Landesgeschichte in den neuen Kunststaaten haben somit einen gemeinsamen Fluchtpunkt, nämlich vom "unausgesprochenen schamkulturellen Paradigma der nationalen Schmach" (349) abzulenken. 1803/06 sei es zu einem Traditionsabriss gekommen, der "in der jüngeren deutschen Geschichte eigentlich nur mit den Umwälzungen der Zeit von 1918 bis 1945 zu vergleichen [ist]". (353) Dass das Alte Reich zwischen 1648 und 1806 trotz der großen Schau des Deutschen Historischen Museums 2006 [4] aus der "historischen Fernerinnerung" (Karl Heinz Bohrer) der Deutschen weitgehend verschwunden ist, liegt, so Burgdorf pointiert, am "Verlust der historischen Naherinnerung unmittelbar nach den Augustereignissen des Jahres 1806." (357)
Erneut hat der Band das heuristische Potential des viel bemühten, dialektisch angelegten Erfahrungsbegriffs von Peter L. Berger und Thomas Luckmann [5] unter Beweis gestellt, der dem Tübinger Sonderforschungsbereich von Anfang an erschließend zugrunde lag. Methodisch am wenigsten profitiert davon noch die eher klassisch angelegte Verwaltungsgeschichte (Reinhard Stauber) - es sei denn, ein mikrogeschichtlicher Zugriff erlaubt die Fokussierung eines "lokalen Büschels von Beziehungen" und damit Einblicke in die Wechselwirkungen der Verwaltungspraxis (Stefan Brakensiek, 53). Mit Recht beklagt Reinhard Stauber, dass die vor über 30 Jahren erstmals vorgestellten Anregungen Werner Blessings für eine Mentalitätsgeschichte des Epochenumbruchs [6] immer noch zu selten aufgegriffen werden. (64)
Unter dem Strich sind die Befunde jedenfalls keineswegs so eindeutig, wie die heute etablierte institutionelle Trennung der Teilfächer suggeriert: Während Barbara Stollberg-Rilinger verfassungsgeschichtlich den Einschnitt von 1806 relativiert (86), bemerkt Rudolf Schlögl aus anderer Perspektive einen markanten Wandel: "Spätestens seit 1780 wird für Religion konstitutiv, dass sie sich [...] in Bezug auf eine (Um-) Welt beschreibt, in der sich Religion nur noch schwer leben lässt und keinesfalls mehr die integrale Gesamtheit eines Lebens bezeichnen kann." (289) Doch auch hier wird man noch einmal differenzieren müssen: Die Religionspolitik in der Reformzeit führte einstweilen nicht zu stärkerer konfessioneller Abgrenzung und Milieubildung, "sondern zu einer Zerreißprobe innerhalb der katholischen Gemeinden zwischen orthodoxen und reformerischen Katholiken." (Tobias Knies, 148).
Von einer "Übergangsgesellschaft" zwischen 1770 und 1840 hat Christof Dipper auf der Tagung erneut gesprochen und jenseits der kulturalistischen Rede vom "Mentalitätsüberhang" (Ute Planert, 18) eine präzise sozialökonomische Konturierung der Epoche eingefordert (vgl. 161f.). Trotz unterschiedlicher Akzentuierungen ist klar: Die "Vermessung des Interims" zwischen früher und später Neuzeit wird weitergehen müssen und sollte in der Tat dazu führen, "diese Ära als eigenständigen Forschungsgegenstand zu etablieren"(Ute Planert, 16). Vielleicht lässt sich die Erfahrungsgeschichte der "Sattelzeit" sogar nochmals erweitern - Jürgen Osterhammel hat letzthin auch aus globalgeschichtlicher Perspektive den Jahrzehnten um 1800 einen eigenen Epochencharakter zugesprochen, der aber im Hinblick auf den Erfahrungswandel in nicht-okzidentalen Zusammenhängen erst noch vergleichend zu umreißen sein wird. [7]
Anmerkungen:
[1] Der 1990 sanierte Tempel auf der Luisenhöhe ist dokumentiert bei Otto Hausmann: Alt-Neuburg. Rückblende auf geschichtliche Höhen und Tiefen, Neuburg 1987, 67, hier auch das Zitat.
[2] Archiv des Historischen Vereins Neuburg an der Donau, Manuskript 9-16, Einträge zum 4.11.1813 beziehungsweise 26.8.1796.
[3] Planert, Ute: Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und Deutschlands Süden. Alltag - Wahrnehmung - Deutung 1792-1841 (Krieg in der Geschichte; Bd. 33), Paderborn/München/Wien/Zürich 2007.
[4] Vgl. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806 - Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806 (29. Ausstellung des Europarates in Berlin 28. August bis 10. Dezember 2006), im Auftrag des Deutschen Historischen Museums hgg. v. Heinz Schilling, Werner Heun und Jutta Götzmann, 2 Bände, Dresden 2006, Band 2: Essays.
[5] Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969 [engl. 1966].
[6] Blessing, Werner K.: Umbruchkrise und 'Verstörung'. Die Napoleonische Erschütterung und ihre sozialpsychologische Bedeutung (Bayern als Beispiel), in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 42 (1979), 75-106; ferner: Ders.: "Der Geist der Zeit hat die Menschen sehr verdorben..." Bemerkungen zur Mentalität in Bayern um 1800, in: Weis, Eberhard (Hg.): Reformen im rheinbündischen Deutschland, München 1984, 229-247; Ders.: Gedrängte Evolution. Bemerkungen zum Erfahrungs- und Verhaltenswandel in Deutschland um 1800, in: Berding, Helmut u.a. (Hgg.): Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, Frankfurt a.M. 1989, 426-451.
[7] Vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 104-109, Zitat S. 108f.
Ute Planert (Hg.): Krieg und Umbruch in Mitteleuropa um 1800. Erfahrungsgeschichte(n) auf dem Weg in eine neue Zeit (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 44), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, 384 S., ISBN 978-3-506-75661-9, EUR 49,90
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