Immer wieder hat Braudels Klassiker La méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II Historiker inspiriert, Geschichten des mediterranen Raums zu schreiben, die nicht in politischen Gebilden, sondern in geografischen Einheiten ihren Ausgang nehmen. Constantakopoulou ordnet sich in diese Forschungstradition ein, indem sie die Inselwelt der Ägäis ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellt. Dabei geht sie insofern über bereits geleistete Studien hinaus, als sie nicht primär eine Geschichte der Ägäis in archaischer und klassischer Zeit verfasst, sondern vor allem den Wandel zeitgenössischer Konzepte von Insularität untersucht, insbesondere vor dem Hintergrund der entstehenden athenischen Hegemonie über dieses griechische Binnenmeer.
In der Einleitung (1-28) wird deutlich, dass es sich um ein komplexes, ob seiner Diversität schwer fassbares Phänomen handelt. So scheint bereits eine eindeutige Definition dessen, was eine Insel sei, unmöglich. Zwar geht Constantakopoulou von der Arbeitsdefinition aus, es handle sich um ein Stück Land, das von Wasser umgeben ist (12). Angesichts der Größenunterschiede verschiedener Inseln wird diese Definition jedoch insofern obsolet, als z.B. Sizilien weniger als Insel denn als kleiner Kontinent wahrgenommen wurde, Inseln sich aus griechischer Perspektive durch eine geringe Landmasse auszeichneten, weshalb Constantakopoulou Euboia und Kreta aus ihren Untersuchungen ausnimmt (13-15). Darüber hinaus können Inseln auch virtueller Natur sein, und die strikte Trennung von Insel und Festland ist z.B. im Hinblick auf peraiai (Teile des Festlands, die unter Kontrolle einer Insel standen) nicht durchzuhalten.
Da der Gegenstand nicht klar zu umreißen ist, vermag allein die Fragestellung der Studie Geschlossenheit zu verleihen: Constantakopoulou strukturiert ihr Thema mithilfe des Kontrastes zweier konstitutiver Konzepte von Insularität, des Gegensatzes zwischen Vernetzung und Isolation, denn Inseln wurden einerseits als eigene Welten, andererseits als Knotenpunkte der Kommunikation bzw. Interaktion verstanden. Dabei fasst Constantakopoulou connectivity und isolation nicht als konträres, sondern als komplementäres Paar auf (6). Den Schwerpunkt legt sie auf Integrationsvorgänge (2), sei die Geschichte der Ägäis doch als Geschichte des Austausches und der Mobilität von Gütern und Personen zu verstehen (25).
Zunächst widmet sie sich "Religious networks in the archaic Aegean" (29-60), den Amphiktyonien von Calauria und Delos, die sie als Netzwerke der Interaktion beschreibt, wobei die "Umwohner" allein über das Meer als einigendes Band zu definieren gewesen seien. So habe die Amphiktyonie von Delos nicht als ionischer, sondern als 'nesiotischer' Kultbund zu gelten, in dessen zentralem Heiligtum sich ionische wie dorische Mitglieder gleichermaßen einfanden.
Das religiöse Netzwerk sei schließlich die Basis dafür gewesen, dass die Ägäis unter athenischer Vormachtstellung zum ersten Mal politisch geeint wurde, da die Athener die bereits bestehende Affinität der Kultteilnehmer als Ausdruck überregionaler Identität zu ihren Zwecken nutzten ("The Aegean islands as an imperial network: the fifth century and the Athenian empire", 61-89). Durch die Überführung der Seebundskasse von Delos nach Athen sei das imperiale Athen zur neuen Zentralinsel der Ägäis geworden.
"Islands and imperialism" (90-136) beleuchtet, wie sich Konzeptionen von Insularität vor dem Erfahrungshintergrund der athenischen Hegemonie veränderten: Die griechische Vergangenheit wurde nun als eine Abfolge mythischer Thalassokratien beschrieben, und Aspekte von Insularität wie Armut, Unwirtlichkeit und Unbedeutsamkeit wandelten sich zu Topoi der Inselwelt. Daraus habe die Legitimation der athenischen Vormachtstellung resultiert, denn die arme, unbedeutsame Inselwelt der Ägäis sei wie dafür geschaffen, von einer großen Seemacht beherrscht zu werden.
Eine andere Konzeption von Insularität prägte die Propagierung Athens als virtueller Insel ("The island of Athens", 137-175): Athen sei als Hegemon des Seebundes zur zentralen Insel der Ägäiswelt geworden, ein zentraler Ort in einem Kommunikationsnetzwerk, darüber hinaus vor allem ein sicherer Hort, der durch die Langen Mauern von einem bedrohlichen Umfeld abgeschirmt worden sei. Die Insel stehe hier für einen utopischen Ort, an dem man sicher und autark leben könne - Bilder, die sowohl in der Alten Komödie als auch in Platons Atlantis evoziert würden.
Dass Interaktion auch unterhalb des Delisch-Attischen Seebundes stattfand, illustriert das Kapitel "The smaller picture: mini island networks" (176-227). Politischer, ökonomischer und administrativer Austausch fand zwischen Nachbarinseln der Ägäis in vielfältiger Weise statt. Einerseits inkorporierten größere Inseln wie Rhodos, Kos, Samos und Chios kleinere Inseln in ihren Herrschaftsbereich. Andererseits zeugen sogenannte "goat islands" von Transhumanz auf ökonomischer Basis: Um die z.T. kargen Ressourcen zu nutzen, zogen Hirten mit ihren Ziegenherden zwischen Ägäisinseln hin und her, was nur auf der Basis eines ausgefeilten Fährsystems möglich war.
Interaktion fand ebenfalls zwischen Inseln und Festland statt ("Beyond insularity: islands and their peraiai", 228-253). Zumindest für Thasos, Samothrake, Tenedos, Lesbos, Chios, Samos und Rhodos lässt sich nachweisen, dass diese Inseln Festlandabschnitte kontrollierten. Hier werde einmal mehr deutlich, dass Diversität die Norm in der Ägäis dargestellt und dass das Meer den entscheidenden Bezugspunkt für die Kategorisierung der Umwelt dargestellt habe.
Constantakopoulou resümiert ("Conclusion", 254-260), dass Interaktion verschiedener Art den Normalzustand in der Ägäis ausgemacht und von Distributionszentren (Rhodos) über Kultzentren (Delos, Samothrake) bis zu Zentren politischer und nautischer Macht (Rhodos, Samos) gereicht habe. Interaktionswege kleiner Reichweite mögen dabei für das Leben der Menschen im Sinne der Braudelschen longue durée weit wichtiger gewesen sein als das, was man gewöhnlich unter den Vorzeichen des athenischen bzw. des Imperialismus von Kos, Samos und Chios als historisches Narrativ gestalte.
Dass sich Netzwerke verschiedener Art und Reichweite über die Inselwelt der Ägäis erstreckten, stellt Constantakopoulou eindringlich dar. Ein wenig mehr connectivity hätte man der Darstellung gewünscht, bestehen die Einzelkapitel doch oft aus langen Passagen, die Material lediglich ausbreiten, bevor es resümierend gedeutet wird. Wenn Inseln sowohl für Isolation als auch für Interaktion, sowohl für Sicherheit als auch für Gefahr, sowohl für Armut und Minderwertigkeit als auch für imperiale Seemacht standen, symbolisierten sie eigentlich alles, was die griechische Lebenswirklichkeit ausmachte. Durch die Omnipräsenz und multiple Bedeutsamkeit der Inselmetapher wird sie banal, könnte man Constantakopoulou entgegenhalten, denn dass Inseln eine zentrale Rolle im griechischen Kosmos spielten, erstaunt kaum. Damit werden sie als Forschungsgegenstand keineswegs obsolet, sondern bieten einen Schlüssel zur Annäherung an zeitgenössische Weltwahrnehmungen. Constantakopoulou gebührt das Verdienst, die Diversität der ägäischen Inselwelt auf verschiedenen Ebenen beschrieben und die heterogenen Vorstellungen von Insularität historisch kontextualisiert zu haben. Nicht jede Deutung muss man teilen, aber die Lektüre des Buches führt dazu, dass die ägäische Inselwelt vor den Augen des Lesers 'tanzt' und damit eine entscheidende Dimension griechischer Wirklichkeit lebendig wird.
Christy Constantakopoulou: The Dance of the Islands. Insularity, Networks, the Athenian Empire, and the Aegean World (= Oxford Classical Monographs), Oxford: Oxford University Press 2007, xiii + 330 S., ISBN 978-0-19-921595-9, USD 60,00
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