Nach "Kartenwelten" und der "Macht der Karten" erschien nun "Theatrum Orbis Terrarum" - eine Neuauflage des ersten Atlas der Geographiegeschichte von Abraham Ortelius aus dem Jahr 1570 - eine weitere, editorisch prachtvoll ausgeführte Arbeit unter Federführung der Duisburger Historikerin Ute Schneider.
Die hier neu aufgelegten Karten, die den geographischen Kenntnisstand und die politischen wie wirtschaftlichen Verhältnisse in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts widerspiegeln, werden in Originalgröße auf einer Doppelseite abgebildet; die Originalerläuterungen dazu von Abrahamus Ortelius erscheinen in halbierter Originalgröße, sind aber immer noch gut lesbar. Der Nachdruck basiert auf dem besterhaltenen Exemplar der deutschen Erstausgabe, ursprünglich hervorgebracht von dem Nürnberger Drucker Johann Koler im Jahre 1572.
Die Aussagekraft des reproduzierten Kartenmaterials und die Originalerläuterungen des Verfassers gewähren einen ebenso facettenreichen wie tiefen Einblick in die Art und Weise, wie Ortelius und seine Zeitgenossen Land und Territorium wahrnahmen und welche Schwerpunkte ihnen bei der Repräsentation wichtig erschienen. Die Neubewertung räumlicher Aspekte in der Historiographie seit Einleitung des "spatial turns" vor mehr als 15 Jahren lassen genau diese Sichtweise des 16. Jahrhunderts in neuem Lichte erscheinen - da Räume "nicht sind, sondern [von Menschen] gemacht werden" [1], ist die Aussagekraft des Theatrum Orbis Terrarum für die Genese der modernen Staatenwelt im 16. Jahrhundert immens. Bereits dieser Umstand rechtfertigt die vorliegende Neuauflage.
Die vorrangige Leistung Schneiders bei dieser Arbeit besteht jedoch in den jede einzelne Karte erklärenden, zum Teil erheblich ergänzenden Erläuterungen sowie in ihrer Einleitung, die klar, kurz, informativ und prägnant formuliert ist. Der Leser erfährt, warum dieser Atlas in der Art und Weise, wie er Raum repräsentiert, ein hochmodernes Werk ist, dessen editorischer Erfolg bereits zu Ortelius' Lebzeiten seinesgleichen suchte. Über die Karten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts weisen diese Erläuterungen hinaus und ergänzen den geopolitischen Querschnitt durch das Europa der frühen Neuzeit um einen historischen Längsschnitt bis ins 20. Jahrhundert hinein.
Dass und warum sich Abraham Ortelius besonders für Natur und Rohstoffe der nach politischen Kriterien eingefärbten und umgrenzten Räume interessierte, und dass er gleichzeitig viel Wert auf die Dokumentation (z. T. auch auf das bewusste Auslassen) von graphisch-politischen Grenzziehungen legte, verknüpft Schneider mit dem frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozess - und wird mit dieser Fragestellung dem aktuellen Forschungsstand gerecht. Dies gilt auch für die Ausführungen über die in den Karten fassbare Auseinandersetzung mit historisch überliefertem Wissen, das den Kartographen vor die Herausforderung stellte, es mit neuen, empirischen Erfahrungen von Seefahrern und Händlern des Entdeckungszeitalters in Einklang bringen zu müssen.
Schneider lenkt den Blick auf eine große Zahl in den Karten versteckter, sonst kaum wahrzunehmender Details, die die Lektüre ebenso erbaulich wie unterhaltsam machen. So etwa, dass die Habsburger zur Abwehr der Osmanen nicht nur einen neuen Limes errichteten, sondern gezielt wehrhafte Serben zur Grenzverteidigung in Slowenien und Kroatien ansiedelten. Zu erfahren ist ebenso, dass den Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts Ungarn wegen seiner Fruchtbarkeit wie ein Paradies erschien und dass eine Landschaft wie Siebenbürgen einst nicht weniger als 40 Goldminen zählte. Schneider erklärt aber auch, dass und warum es für Ortelius durchaus Sinn ergab, die Karten Dithmarschens (einer Landschaft im heutigen Schleswig-Holstein) und Preußens gemeinsam anzuordnen - der Grund lag in vergleichbarer "politischer Verfasstheit der beiden Territorien" (139).
Besonders eindrucksvoll und beispielhaft für Schneiders Fähigkeit, mit wenigen Worten viel zu sagen, ist ihre Erläuterung zu Ortelius' Karte der Toskana. Es gelingt ihr, den Bogen zu spannen vom Territorium der Medici in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wie es Ortelius abbildet, über den im 18. Jahrhundert unter besonderen Bedingungen in der Toskana erprobten aufgeklärten Absolutismus bis hin zur Bedeutung dieser Region nach der staatlichen Einigung Italiens im 19. Jahrhundert.
Gerade in solchen, über den von Ortelius abgebildeten Gegenstand hinausweisenden Erläuterungen, liegt der Mehrwert dieser Neuausgabe. Und gerade dadurch erfahren die Raumrepräsentationen des Ortelius eine Dynamisierung, die der modernen Wahrnehmung von Raum und seiner Repräsentation als menschgemachtem "work in progress" (7) - um ein Wort der Herausgeberin zu benutzen - entsprechen. Kleinere Ungenauigkeiten wie etwa das Fehlen der Anführungszeichen bei der Kommentierung der von Ortelius beschriebenen "Seeungeheuer" (149) fallen dabei nicht ins Gewicht.
Abschließend wird auch das von Ortelius erstellte, noch heute jeden Schulatlas prägende Register kommentiert und eingeordnet. Hierbei wird besonderes Gewicht gelegt auf die für das 16. Jahrhundert ungewöhnliche Wissenschaftlichkeit des Ortelius, insbesondere auf seinen gewissenhaften Umgang mit den von ihm verwendeten, zahlreichen Quellen und Referenzen.
Auf der letzten der insgesamt 208 Seiten bietet die Autorin eine kleine aber feine Auswahlbibliographie, die ebenso hochwertige wie allgemeinverständliche Literatur zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema Raum und Geschichte an die Hand gibt. Die Lust auf eine solche vertiefende Lektüre vermag dieses Buch zu wecken. Es ist dem interessierten Laien wie dem Fachmann wärmstens zu empfehlen.
Anmerkung:
[1] Hans-Dietrich Schultz: Zur Genese 'Mitteleuropas' in der deutschen Geographie, in: Europa Regional 5 (1997), 2-4.
Abraham Ortelius: Theatrum Orbis Terrarum. Gedruckt zu Nuermberg durch Johann Koler Anno MDLXXII. Mit einer Einführung und Erläuterungen von Ute Schneider, 2., unveränd. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 208 S., ISBN 978-3-534-20470-0, EUR 49,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.