San Pietro al Monte, eine doppelchörige Saalkirche mit Krypta oberhalb des Orts Civate am Comer See, noch heute abseits und schwer zugänglich auf halber Höhe des Monte Pedale gelegen, zählt zweifellos zu den am intensivsten erforschten Kirchen des 11. Jahrhunderts. Komplexität und Einzigartigkeit des qualitätvollen Ausstattungsprogramms mit Malereien und Stuck, die ungewöhnliche architektonische Anlage, vor allem aber der nahezu vollständige Verlust des Klosterarchivs ließen ihn jedoch auch zu einem Eldorado spekulativer Wissenschaft werden. Durch gut bebilderte Publikationen seit dem 19. Jahrhundert verfügbar, luden die zahlreichen, mitunter divergierenden Befunde und ikonografischen Besonderheiten bis in die jüngste Zeit zu mitunter vermessenen Theorien über Funktion, Auftraggeber und Entstehungsumstände ein. Monika Müller hat es sich also in ihrer Tübinger Dissertation nicht leicht gemacht. Allein dass sie trotz sehr gewissenhafter Beachtung der unüberschaubaren Forschungsmeinungen einen entschieden neuen Ansatz formulieren und konsequent umsetzen konnte, verdient höchste Anerkennung.
Die zentrale Leistung der Arbeit ist die Herleitung der komplexen ikonografischen Inhalte der Darstellungen und Tituli aus der exegetischen Literatur zur Apokalypse. Darin geht die Autorin viel weiter als Yves Christe und Peter Klein in verschiedenen Aufsätzen seit den 1970er-Jahren. Ein Schlüssel zum Verständnis ist die Interpretation des Engels mit dem Messstab (Apk 21,15) als Christus, wie er im Gewölbe des Eingangskorridors der Kirche dargestellt ist, vor allem durch Ambrosius Autpertus (†784), Abt des Klosters San Vincenzo am Volturno. Dessen Erklärung mit Verweis auf Weish 11,20 ("Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet") lieferte konsequenterweise den Haupttitel der Arbeit. Monika Müller hat nichts weniger als den Versuch unternommen, dieser Prämisse zu folgen und auf der Basis der in der Mailänder Diözese greifbaren vorscholastischen Theologie eine gedankliche und intentionale Struktur in die gesamte Ausstattung zu bringen.
Über alle Kapitel des gewichtigen Buchs hinweg sind Zitate und Denkmuster der Exegeten bis in die unmittelbare Entstehungszeit der Hauptfresken hinein eingestreut, vor allem aus Bruno von Segnis für das Verständnis der Einteilung der Zeit enorm wichtigen Apokalypsen-Kommentar von 1079. Es wird überdeutlich, wie genau der Konzepteur von Civate über die eschatologischen Debatten der Zeit informiert war. Seine Vorgehensweise, "Inhalte etablierter Exegese zu einem eigenen Konzept" zusammen zu stellen und der "standardisierten Bildbedeutung" hinzuzufügen (161), verrät einen geschulten Kirchenmann, der es verstand, ein auf mehreren Ebenen von unterschiedlichen Rezipienten erfassbares Programm zu entwerfen. Dass es sich dabei eigentlich nur um den Mailänder Erzbischof Arnolfo III. (1093-97) handeln kann, was früh und oft vermutet, aber jüngst etwa von Paolo Piva bezweifelt wurde, erfährt der Leser leider erst im letzten Kapitel mit aller Klarheit (342-354). Arnolfo ließ sich sehr wahrscheinlich hier bestatten, er war als einer der wenigen papsttreuen Mailänder Erzbischöfe seiner Epoche an der explizit prorömisch und "petrinisch-ekklesiologischen" Ausrichtung des Programms interessiert; und er lässt sich auch mit den seelsorgerischen Themen in Verbindung bringen.
Von diesem Ergebnis hängen zahlreiche Fragen ab, vor allem die viel diskutierte Datierung von Bau und Ausstattung, die Funktion und die Rezeption. Es wäre daher vielleicht strategisch günstiger gewesen, das Ergebnis voran zu schicken. So aber ist man gehalten, häufig zu blättern und sich dieses Endpunkts der Argumentationen immer wieder zu versichern.
Im ersten, "allgemeinen" Abschnitt (15-102) werden die historischen, architektonischen und stilistischen Eckdaten behandelt, zu großen Teilen als kritische Forschungsdiskussion. Die Autorin schließt sich hier vorsichtig der jüngeren Tendenz an, den gewesteten Bau in seiner bipolaren Anlage als ursprünglich anzusehen (24-28). Nach einer Funktionsanalyse kommt sie zu dem Schluss, dass San Pietro "keinesfalls den Anforderungen einer monastischen Hauptkirche genügen" konnte (41-42). Damit liefert sie ein gewichtiges Argument für die Annahme, dass die Bergkirche institutionell zu der im Tal gelegenen Klosterkirche San Calocero gehört haben muss. Ein Desiderat bleibt aber wohl weiterhin die Klärung der Funktion der Krypta: Ein populäres Heiligengrab hat es hier nicht gegeben, als Bestattungs- oder schlicht "Prozessionsort" (34-38) kann man sie wohl kaum bezeichnen. Der Abschnitt zum Stil von Malereien und Stuck (43-96) legt das Dilemma der Forschung besonders offen dar: Das oft freie Jonglieren mit Vergleichen und dem Grad von "Byzantinismen" hat mitunter groteske Blüten getrieben. Zu Recht geht Monika Müller daher zunächst vom Ensemble selbst aus, unterscheidet verschiedene Hände und sieht keine Abhängigkeiten, sondern lediglich eine zeitliche Nähe zu den Malereien in San Calocero und der Abteikirche von Novalesa. In San Pietro hat es sich um eine "personalintensive Arbeitsorganisation" (54) gehandelt, die mindestens sechs "Künstler- bzw. Künstlergruppen" umfasste. Dies ist ein handfestes Argument für die relativ kurze Entstehungszeit, die der Auftrag Arnolfos III. voraussetzen würde.
Im zweiten Teil (105-287) wird das Programm in aller Ausführlichkeit dargestellt, wobei schon hier wichtige Ergebnisse des Schlussteils anklingen, vor allem die These einer Leserichtung von Ost nach West und einer inhaltlichen Verklammerung aller Darstellungen in Kirche und Krypta. Die Gesetzes- und Schlüsselübergabe an die Apostelfürsten taucht zweimal auf, als Portalfresko und an der Westwand des Ziboriums über dem Hauptaltar. Einleuchtend ist es, die Dominanz des ungewöhnlichen Themas der Löse- und Bindegewalt durch die römische Kirche als kirchenpolitisches Statement zu sehen (122). Das gilt natürlich auch für die Darstellung des bußliturgischen Wiederaufnahmeritus durch zwei Päpste am Eingang, die nicht (wie oft vermutet) auf eine primäre Bußkirchen-Funktion schließen lässt, da die Mönche keine Rekonziliations-Berechtigung besaßen (125-129). Ebenso lehnt die Autorin die haltlose Vermutung ab, das Programm könnte wegen der Jerusalem-Darstellung oder einer angeblichen Heiliggrab-Kopie des Ziboriums mit den Kreuzzügen im Zusammenhang stehen (166-169, 224-231). Die "betont spirituelle Ausrichtung" des Programms und das Thema der Totenliturgie lassen hingegen eine andere Funktion vermuten. Überzeugend ist die Interpretation des Marienthemas in der Krypta, wo die älteste bekannte Monumentaldarstellung des Marientods gezeigt wird: die Muttergottes als Vorbild für die Überwindung des Todes im Rahmen des eschatologischen Programms, die Apostel für die Überwindung der Trauer (267-275).
Im letzten Kapitel (289-381) verdichten sich die Aussagen. Die Autorin fragt, was von wem etwa bei der Messe zugleich gesehen werden konnte. Dabei analysiert sie erstmals die Tituli (313-330), die sich deutlich von zeitgenössischen Beispielen wie in San Clemente in Rom unterscheiden, indem sie keine Bilderklärungen, sondern Exegesen des Dargestellten, mithin also Anleitungen zur Predigt sind. Hochinteressant sind auch die Überlegungen zur Zahlensymbolik als Strukturprinzip und zur Reflexion des Ablaufs der Zeit von den Anfängen bis zum Ende, worin ein Einfluss des "Liber regularum" des Tyconius spürbar wird (303-313). Das häufige Memento-Mori-Thema und die Möglichkeit, den individuellen Tod stets im Kontext der universellen Zeit zu sehen, verweisen schließlich auf die Hauptfunktion der Kirche als Ort des liturgischen Totengedächtnisses (371-376). Dies ist wohl das wichtigste und sicherlich bahnbrechende Ergebnis der Arbeit.
Der Leser ist freilich nicht immer begeistert. Die Vorgehensweise der Autorin bedingte neben langen Fußnoten auch einige Redundanzen und störende Verweise auf vorangegangene oder folgende Kapitel. Gerade im wichtigen Schlusskapitel zur Funktion (355-376) erschweren mitunter erschöpfende Begriffserklärungen (Pilger, Prozession, Stationskirche), mit denen Forschungsmeinungen zurechtgerückt werden, den raschen Fortgang der Argumentation. Dass San Pietro nicht primär Pilgerkirche gewesen sein kann, ist dem Leser schon lange klar geworden. Einzelne Begriffe wie "Raumsemantisierung" (165) oder "linientreu" (345) wären zu hinterfragen. Während Layout und Aufmachung des Buchs nichts zu wünschen übrig lassen, sind die Bilder leider wenig befriedigend. Dies dürfte nicht dem Verlag anzurechnen sein, auch nicht der Autorin, sondern einem wachsenden Problem, das in der Danksagung zurückhaltend als "große Schwierigkeiten vor Ort" bezeichnet wurde: Wer es als Kunsthistoriker - nicht nur in Italien - jemals mit lokalen Platzhirschen aus Wissenschaft, Politik oder Kirche zu tun hatte, kennt die Kämpfe um Fotoerlaubnis und Akteneinsicht.
Dies schmälert jedoch kaum den Wert der Arbeit, die unübersichtliche Forschung zu Civate objektiv und dennoch souverän beurteilt und ihr durch den historisch-ikonografischen Ansatz eine neue Richtung gewiesen zu haben. Ein üppiger Anhang zu Quellen und Restaurierungen rundet den Eindruck ab. Wenige Fragen sind offen geblieben. Schwerlich wird so bald ein ähnliches Buch über San Pietro al Monte geschrieben werden können.
Monika E. Müller: Omnia in mensura et numero et pondere disposita. Die Wandmalereien und Stuckarbeiten von San Pietro al Monte di Civate, Regensburg: Schnell & Steiner 2009, 480 S., 83 Farbtafeln, ISBN 978-3-7954-2028-4, EUR 84,00
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