Nach der pragmatischen Entscheidung, die Handbuchserie zu den internationalen Beziehungen auf die Neuzeit zu beschränken, erscheint 1450 als sinnvoller Beginn, denn mit dem Ende des Hundertjährigen Krieges und der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 sowie dem Frieden von Lodi 1454 liegen markante Orientierungspunkte vor. Konzeptionell soll es sich nicht um eine "neue Politikgeschichte" handeln, sondern um eine bei besseren Autoren eigentlich schon immer übliche Einbettung der Diplomatie- und Ereignisgeschichte in den weiteren historischen Kontext. Daher die Zweigliederung in Strukturen und Ereignisse, genauer: Dreigliederung in Rahmenbedingungen, Akteure und Ereignisse.
Einführend äußert sich Kohler in einer Übersicht über die Probleme auch zu seiner Entscheidung, neben dem Hegemoniestreben Karls V. und seiner Rivalen die koloniale Expansion der iberischen Mächte ebenfalls ausführlich zu behandeln und zu einem Leitmotiv seiner Darstellung zu machen. Auf der anderen Seite legt er aber auch Wert auf die Feststellung, dass es sich nach wie vor um verschiedene räumlich getrennte Konfliktfelder handelt. Dabei rechnet er sich die ausführliche Berücksichtigung des osteuropäischen und des osmanischen als besonderes Verdienst an.
Unter den Rahmenbedingungen kommt die damalige Hochkonjunktur dynastischer (Heirats-) Politik zur Sprache, bei aller gebotenen Relativierung des bekannten "tu Austria nube", dann die Entstehung der Diplomatie und der diplomatischen Vertretungen, weiter Krieg und Frieden, das heißt besonders das Kriegswesen dieses konfliktreichen Zeitalters mit seinen Varianten. Nach der politischen Theorie und dem Völkerrecht werden die Auto- und Heterostereotypen der entstehenden Nationen samt ihrem jeweiligen Propagandawert behandelt, zum Schluss geht es um den neuartigen Einfluss der Konfession auf die Politik, der im Folgeband von Heinz Schilling dann die zentrale Rolle spielt.
Man vermisst in diesem ersten Teil die Anfänge der Kongressdiplomatie (Arras, Nizza) und eine Behandlung der Kriegsflotten neben den Armeen. Außerdem beschränkt sich die Schilderung der Auto- und Heterostereotypen weitgehend auf das Reich und die Eidgenossenschaft. Laut Kohler ist der Forschungsstand für andere Länder unzureichend, was zumindest für Italien und Spanien bezweifelt werden darf, auch wenn die große Zeit derartiger politischer Argumente in der Tat erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beginnt.
Den Akteuren ist der bei weitem umfangreichste Teil des Buches gewidmet. Denn hier werden nicht nur die politischen Verhältnisse der Länder Europas nach geographischen Räumen detailliert geschildert, ihre Verfassung im Rahmen von Gesellschaft und Wirtschaft, wobei auch den Finanzen erfreulicherweise große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Vielmehr ist bereits auch von den verschiedenen Machthabern samt ihren Interessen und Aktivitäten die Rede. Das sieht nach unangebrachter Vorwegnahme der Ereignisgeschichte aus, stellt aber in Wirklichkeit eine Entlastung dieses dritten Teils dar, der sonst zu unübersichtlich geworden wäre. Dank dieses Kunstgriffs lässt sich letzterer straffen und auf neun Krisenherde fokussieren: die osmanische Expansion bis 1521 - Osteuropa zwischen Polen-Litauen, Moskau und den Tataren - die iberische Expansion in Afrika, Asien und Amerika - der Zerfall der Kalmarer Union - der burgundische Erbfolgekrieg - Italien 1494-1515 - Europa zwischen Krieg und Frieden 1516-1520 (das Anliegen des Erasmus von Rotterdam) - der Kampf um die Hegemonie 1521-1559 - die osmanischen Offensiven nach 1521.
Spätestens bei Behandlung der Akteure hätte man sich allerdings ein explizites Eingehen auf die Entwicklung der jeweiligen Staatsgewalt als Voraussetzung wie als Ergebnis der Mächtebeziehungen gewünscht. Aber die einschlägige Literatur wie die von Blockmans und Genet herausgegebene Serie, die Bücher von Michael Braddick oder diejenigen des Rezensenten wurde weitgehend ignoriert. Ebenso hätte man gerne diejenigen Momente identifiziert gesehen, an denen die Mächtebeziehungen anfangen, über die politischen Großregionen hinauszugreifen und gesamteuropäisch oder cum grano salis sogar "global" werden. Schließlich haben nicht nur die Bourbonen Beziehungen zu den Osmanen gesucht, sondern auch die Habsburger zu den Safawiden.
Kohler ist erfreulicherweise im Gegensatz zu vielen jungen Kollegen der Auffassung, dass man auch aus Veröffentlichungen, die älter sind als fünf Jahre, gültige Informationen entnehmen kann. Er beruft sich nicht nur auf die "Geschichte der europäischen Expansion" des Rezensenten (1983-1990), sondern auch auf die Beiträge von Engel, Lutz, Rabe und Schulin im einschlägigen 3. Band des Handbuchs der europäischen Geschichte (1971), ja sogar auf den einstigen Klassiker "Das Werden des neuzeitlichen Europa" von Erich Hassinger (1957). Aber soviel erfreuliche Souveränität sollte doch nicht mit Ignorieren maßgebender neuerer Arbeiten einhergehen. Ich nenne zusätzlich nur noch die verschiedenen Bücher von Suraya Faroqhi über die Osmanen. Auf diese Weise können, wie oben gesagt, wichtige Geschichtspunkte übersehen werden.
Darüber hinaus ist das Werk insgesamt zwar hervorragend konzipiert, aber seine Durchführung im Einzelnen lässt nicht selten die gebotene Sorgfalt vermissen. Man findet Grammatikfehler (71, 147), einmal fehlt ein Satzteil (105), sprachliche und sachliche Wiederholungen kommen häufig vor. Dabei kann es auch zu Widersprüchen kommen: welcher Sultan war denn nun der Schöpfer der osmanischen Kriegsflotte (258, 264, 266)? Auf Seite 55 bejaht Francisco di Vitoria die universalen Herrschaftsansprüche von Papst und Kaiser, auf Seite 294 lehnt er sie ab. Nicht selten werden überraschend neue Personen oder Sachverhalte eingeführt, ohne dass dem Leser Herkunft und Bedeutung klar wird, z. B. ein Wittelsbacher Kandidat für den böhmischen Thron (211). Und was "die gesamte Rus" ist (273), hätte man auch gerne erklärt bekommen. Verschiedene Zahlenangaben machen einen eilig zusammengestellten und widersprüchlichen Eindruck, so z. B. diejenigen über die venezianische Flotte (119), die den Leser verwirrt hinterlassen.
Dazu kommen immer wieder sachliche Ausrutscher: Karavellen wogen nicht weniger als 100 Tonnen, sondern hatten eine entsprechend geringe Wasserverdrängung (16). Das Ausmaß der portugiesischen Kontrolle über den Indischen Ozean wird entgegen der neueren Forschung überschätzt (19) und auch die portugiesische Kontrolle über asiatische Landgebiete kartographisch übertrieben (314). Der "Consejo de Aragon" war keine ständische Einrichtung (91). Auch Mais ist ein Getreide (108). Und wie fing man es an, das Flusssystem von Seine und Loire wiederherzustellen (127)? Karl V. hat das Fürstbistum Lüttich nicht für die Niederlande erworben; möglicherweise handelt es sich um eine Verwechslung mit der burgundischen Vogtei unter Karl dem Kühnen (143). Auf Seite 227 Zeile 6 wird Dänemark mit Norwegen verwechselt. Venedig erwarb Zypern nicht 1479 (118), sondern 1489 (265); aber nur die erste Stelle erscheint im Register. Magellans Weltumseglung erfolgte in spanischen, nicht in portugiesischen Diensten, obwohl Magellan Portugiese war (284). Auf Seite 309 wird Almagro mit Alvarado verwechselt.
Fazit: ein großartig entworfenes Buch wird seinem Anspruch im Detail oft nicht gerecht. Hoffen wir auf eine verbesserte 2. Auflage!
Alfred Kohler: Expansion und Hegemonie. Internationale Beziehungen 1450-1559 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen; Bd. 1), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, XIV + 445 S., ISBN 978-3-506-73721-2, EUR 90,00
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