sehepunkte 10 (2010), Nr. 4

Hugh Kennedy (ed.): Al-Tabari

Um zu verstehen, wie der für die Islamwissenschaft zentrale Autor aṭ-Ṭabarī gearbeitet hat, ist viel Forschungsarbeit nötig. Das liegt vor allem daran, dass aṭ-Ṭabarīs Werk gewaltig ist. Neben seiner berühmten und vielgebrauchten Weltgeschichte, den Annalen (arab. Ta'rīḫ ar-rusul wa-'l-mulūk), die in der Edition 15 Bände umfasst und in 40 Bänden ins Englische übersetzt wurde, hat aṭ-Ṭabarī einen 30 Bände umfassenden bisher unübersetzten Korankommentar (arab. Ǧāmi' al-bayān 'an ta'wīl al-Qur'ān) und ein 6 Bände umfassendes biographisches Lexikon (arab. Tahḏīb al-āṯār) verfasst.

Aṭ-Ṭabarīs Werk ist so groß, dass es schon eigene Bibliographien dazu gibt.[1] Auch in jüngster Zeit haben sich Wissenschaftler mit aṭ-Ṭabarī befasst. Zwei kürzlich erschienene Publikationen habe ich bereits in den 'sehepunkte(n)' besprochen.[2] Der hier zu besprechende Sammelband ist das publizistische Ergebnis der 1995 in St. Andrews abgehaltenen Konferenz "Ṭabarī: Life and Works". Er beinhaltet neben einer weiteren mehrseitigen Bibliographie (355-361) 20 neue Beiträge, die sich mit verschiedenen Aspekten von aṭ-Ṭabarīs Gelehrtentätigkeit befassen.

Es ist an dieser Stelle unmöglich alle Beiträge einzeln zu besprechen. Ein kurzer Überblick über die beitragenden Autoren bzw. deren Aufsätze und die nähere Besprechung von drei Artikeln mag deswegen genügen.

T. KHALIDI führt in die breite Gelehrsamkeit aṭ-Ṭabarīs ein (1. Al-Ṭabarī: An Introduction), während sich die nächsten sechs Beiträge mit der vorislamischen Zeit in aṭ-Ṭabarīs Annalen beschäftigen (2. M. WHITBY, Al-Ṭabarī: The Period Before Jesus; 3. M. ZAKERI, Al-Ṭabarī on Sasanian History: A Study in Sources; 4. Z. RUBIN, Al-Ṭabarī and the Age of the Sasanians; 5. J. HOWARD-JOHNSTON, Al-Ṭabarī on the Last Great War of Antiquity; 6. W. KAEGI/P. COBB, Heraclius, Shahrbarāz, and al-Ṭabarī; 7. J. MCAULIFFE, Al-Ṭabarī's Prelude to the Prophet).

Vier weitere Beiträge wenden sich einer vertieften Analyse bestimmter Abschnitte der Annalen zu (C. GILLIOT, Al-Ṭabarī and the History of Salvation; H. KENNEDY, The Sources of al-Ṭabarī's History of the 'Abbāsid Caliphate; J. NAWAS, The Quest of Historical Reliability: A Test of Two Hypotheses Relating to the Use of Numbers in al-Ṭabarī's History; M. GORDON, The Samarran Turkish Community in the Ta'riīkh of al-Ṭabarī), wohingegen eine zweite Gruppe von fünf Beiträgen Zusammenhänge zwischen den Annalen und anderen islamischen Quellen herstellt (KH. ATHAMINA, The Historical Work of al-Balādhurī and al-Ṭabarī: The Author's Attitude Towards the Sources; S. GÜNTHER, Al-Nawfalī's Lost History: A Shī'ī Source Used by al-Ṭabarī and Abū l-Faraj; R.-J. LILIE, Theophanes and al-Ṭabarī on the Arab Invasion of Byzantium; E. DANIEL, The Sāmānid "Translations" of al-Ṭabarī; C. ROBINSON, A Local Historian's Debt to al-Ṭabarī: The Case of al-Azdī's Ta'rīkh al-Mawsil).

Neben drei weiteren Beiträgen, die sich mit sekundären Themen der Annalen befassen (A. VROLIJK schildert die Höhen und Tiefen, die es bei der Fertigstellung der de-Goeje-Edition zu überwinden galt, A. KHALIDOV referiert über die russischen Übersetzungen der Annalen, während mir O. AL-BILIs Essay über "den anderen al-Ṭabarī" weitgehend unverständlich blieb), beschäftigt sich ein letzter Beitrag mit aṭ-Ṭabarīs biographischem Lexikon (E. LANDAU-TASSERON, The Biographical Work of al-Ṭabarī).

Es wird deutlich, dass sich der größte Teil der Beiträge mit aṭ-Ṭabarīs Annalen befasst, so dass der Titel dieses Sammelbandes treffend gewählt ist. Die Anordnung der einzelnen Beiträge soll vermutlich chronologisch sein, wobei einige Beispiele aus der Reihe fallen.

Unter dem Vorbehalt der Subjektivität und dem ausdrücklichen Verweis darauf, dass es weitere kenntnisreiche und empfehlenswerte Artikel in diesem Band gibt, empfand ich folgende Beiträge als besonders lesenswert:

KAEGI und COBB (Nr. 6, 95-112) untersuchen das Verhältnis der griechischen historischen Tradition (u.a. bei Nikephorus) zur islamischen historischen Tradition (aṭ-Ṭabarī, Ibn 'Abd al-Ḥakam) am Beispiel Šahrbarāz, der um 627 von Ḫusrau II zu Heraklius übergelaufen ist und dadurch den Byzantinern den Sieg über die Sassaniden ermöglichte. Nach dem Vergleich der verschiedenen Überlieferungen in den genannten Quellen kommen die Autoren zu dem Schluss, dass ein Teil der griechischen Tradition auf der gemeinsamen östlichen Quelle basiert, die Lawrence Conrad als syrisch-aramäische Chronik des Theophilus von Edessa identifiziert hat.[3] Darüber hinaus konstatieren sie eine zwei "herakleianische" historiographische Tradition und betonen den höheren Stellenwert, den Ibn 'Abd al-Ḥakams Futūḥ Miṣr in diesem Beispiel gegenüber aṭ-Ṭabarīs Annalen einnimmt.

GÜNTHER (Nr. 10, 157-173) vergleicht die Angaben über die frühe Šī'a in aṭ-Ṭabarīs (gestorben 923) Annalen mit denen in Abū 'l-Faraǧ al-Iṣfahānīs (gestorben 966) Maqātil aṭ-Ṭālibīyīn. Beide Autoren zitieren Nachrichten von 'Alī b. Muḥammad an-Naufalī (gestorben ca. 850), dessen historisches Werk in der Rekonstruktion folgende bedeutende Merkmale aufweist: Es war Mitte des 9. Jh. fertiggestellt, ging zurück auf an-Naufalīs Vater als zeitgenössische Quelle und hatte einen engen thematischen Rahmen (168). An-Naufalī hatte dieses Werk schon abschließend redigiert, so dass es schriftlich überliefert wurde (170). Da uns dieses Werk nicht eigenständig, sondern nur in divergierenden, späteren Zitaten erhalten geblieben ist, kann es sich dabei nicht um ein syngramma gehandelt haben, sondern muss ein "Buch der Schule für die Schule" gewesen sein. [4]

NAWAS (Nr. 13, 209-217) untersucht die von CONRAD aufgestellte These, dass die Zahlen 4 und 7 (bzw. deren Zehnerderivate 40, 400, 4000 usw.) in aṭ-Ṭabarīs Annalen besonders häufig vorkommen und als Zahlentopoi gebraucht werden.[5] Dazu hat NAWAS alle Zahlen, die in den Annalen bis zum Jahr 300 vorkommen, in eine Datenbank eingegeben und miteinander verglichen. Er kommt zu dem Schluss, dass die Zahlen 4 und 7 (bzw. deren Derivate) nicht besonders oft gebraucht werden und dass die Zahl 3 (bzw. deren Derivate) viel öfter vorkommt. Außerdem stellt er fest, dass aṭ-Ṭabarī seine Zahlenangaben nicht topoistisch verwendet, sondern diese ganz im Gegenteil "maßvoll und vorsichtig" gebraucht (217). Dieser überzeugende Beitrag lässt damit Conrads These als überholt erscheinen.

Diese drei Artikel leisten, ebenso wie einige andere in diesem Band, einen wichtigen Beitrag zur aṭ-Ṭabarī-Forschung und helfen dabei, unser Verständnis von den Annalen zu vertiefen. Deswegen kann die aṭ-Ṭabarī-Konferenz als voller Erfolg gewertet werden, auch wenn die Publikation der Ergebnisse aus bekannten Gründen viel zu lange gedauert hat. Dennoch bleibt dieser Sammelband eine Publikation, die in jede (islam-) historisch ausgerichtete Bibliothek gehört.


Anmerkungen:

[1] Franz-Christoph Muth: Die Annalen von aṭ-Ṭabarī im Spiegel der europäischen Bearbeitungen. Frankfurt 1983.

[2] Siehe Jens Scheiner: Rezension von: Boaz Shoshan: Poetics of Islamic Historiography. Deconstructing Tabaris History, Leiden / Boston / Tokyo: Brill Academic Publishers 2004, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 10 [15.10.2008], URL: http://www.sehepunkte.de/2008/10/15051.html bzw. Rezension von: Hakan Rydving (ed.): Al-Ṭabarī's History. Interpretations and Challenges, Uppsala: Acta Universitatis Upsaliensis 2007, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/01/16366.html

[3] Lawrence I. Conrad: The Conquest of Arwād. A Source-Critical Study in the Historiography of the Early Medieval Near East. In: A. Cameron/L. Conrad (eds.): The Byzantine and Early Islamic Near East I. Problems in the Literary Source Material. Princeton 1992, 317-401.

[4] Eine erweiterte Version dieses Aufsatzes ist zwischenzeitlich erschienen in: British Journal of Middle Eastern Studies (BJMES), Bd. 36 (2009), 241-266.

[5] Lawrence I. Conrad: Seven and the Tasbī'. On the Implications of Numerical Symbolism for the Study of Medieval Islamic History. In: JESHO 13 (1988), 42-73.

Rezension über:

Hugh Kennedy (ed.): Al-Tabari. A Medieval Muslim Historian and His Work (= Studies in Late Antiquity and Early Islam; Vol. 15), Princeton: The Darwin Press 2008, VII + 384 S., ISBN 978-0-87850-128-1, USD 85,00

Rezension von:
Jens Scheiner
Georg-August-Universität Göttingen
Empfohlene Zitierweise:
Jens Scheiner: Rezension von: Hugh Kennedy (ed.): Al-Tabari. A Medieval Muslim Historian and His Work, Princeton: The Darwin Press 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/04/16367.html


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