Die deutschen "Kriegskinder" des Zweiten Weltkriegs, ihre Erfahrungen und deren Folgen bis in die nächste Generation hinein sind sowohl zu einem publizistisch höchst ertragreichen Gegenstand als auch zu einem eigenen Forschungsfeld geworden. Der von Lu Seegers und Jürgen Reulecke herausgegebene schmale Band zur "Generation der Kriegskinder" kann sich deshalb auf beides beziehen: auf Forschungen zu geteilten Erfahrungen der zwischen 1930 und 1945 Geborenen und auf den Prozess der allmählichen Verfertigung einer "Generation" beim Reden über sie.
Um die Jahrtausendwende, so Seegers in ihrer Einführung, verdichteten sich die Zeichen - eine neue "Generation" kann hier als medial vermitteltes Deutungsangebot im Entstehen nachverfolgt werden. Seegers nennt Gründe, die diese Konjunktur eines generationellen Interpretaments befördert haben könnten: Das Verschwinden der "Erlebnisgeneration" oder auch eine veränderte öffentliche Erinnerungskultur, die in zunehmendem Maße darauf insistierte, dass auch die Geschichte "deutscher" Kriegserfahrungen als eine Geschichte von Opfern, von Entbehrungen, Leid und Verlust zu schreiben sei.
Den Beiträgen geht es darum, Aspekte der Entstehung und Ausprägung eines "Diskurses" um die "Generation der Kriegskinder" in den Blick zu nehmen, die vielschichtige Gemengelage von Erfahrungswelten und Sinnstiftungsmustern in einer Längsschnittperspektive zu untersuchen und dabei dem Zusammenspiel von individueller Erfahrung, öffentlich verhandelten Deutungsmustern und Familiengedächtnissen nachzuspüren. Damit sind zwei, immer schon in Spannung zueinander befindliche Pole angesprochen: die Erfahrungen der "Kriegskinder" und die zum Teil sehr viel später einsetzende Kommunikation über diese Erfahrungen - ohne dass diese Ebenen klar zu trennen wären.
Miriam Gebhardt betrachtet in ihrem Aufsatz Normen, die den Umgang von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern seit den 1930er Jahren bis in die Nachkriegszeit prägten. Damit rückt sie "ideologische Grundmotive" (33) in den Mittelpunkt der Betrachtung, die sie als die Frühsozialisation von Kindern prägende leitende "Selbstbilder einer Kultur" fasst. An der Schnittstelle von innerfamiliärem Erziehungshandeln und staatlicher, von Experten formulierter NS-Familienpolitik gelingen ihr auf der Grundlage von "Elterntagebüchern" aufschlussreiche Einblicke in das Konzept der sogenannten "Lebensbemeisterung", das deutlich mit bürgerlichen Erziehungsidealen brach.
Lu Seegers wendet sich in ihrem Beitrag der Vaterlosigkeit als einer kriegsbedingten Erfahrung nach beiden Weltkriegen zu und arbeitet für die Zeit nach 1945 sowohl Gemeinsamkeiten (Vaterlosigkeit als privatisierte Kriegsfolgeerscheinung) als auch Unterschiede in der jeweiligen Thematisierung bzw. Nicht-Thematisierung des Phänomens heraus. Das Fehlen von Erinnerungsgemeinschaften unter ostdeutschen "Kriegskindern" sieht sie auch darin begründet, dass das Reden über das eigene Schicksal im Westen an eine kritische Distanznahme gegenüber den Siegern des Krieges gekoppelt blieb, die so in der DDR nicht möglich war.
Eva-Maria Silies Beitrag zur generationellen Erfahrung mit Sexualität und Empfängnisverhütung in der Bundesrepublik der 1960er Jahre weist nach, dass die weiblichen "Kriegskinder" - bei ihr die zwischen 1935 und 1945 Geborenen - zögerlicher von den neuen Möglichkeiten sexueller Selbstbestimmung Gebrauch machten. Inwieweit das etwas mit ihren Kriegserfahrungen zu tun hatte, wird allerdings kaum deutlich.
Barbara Stambolis stellt anregende Überlegungen zu einer vernachlässigten Erfahrungsdimension der sogenannten "Kriegskindergeneration" an, indem sie nach den "erinnerungskulturellen Aspekten" (118) einer "ge- und ersungenen Geschichte" fragt. Ihre knappe Skizze stellt indes einstweilen mehr Fragen als sie beantworten kann: nach den Liedern der "Kriegskindergeneration", ihren Texten und ihrem 'leisen' Weiterwirken, aber auch nach dem Umgang von Zeithistorikern mit dieser schwer zu greifenden erfahrungsgeschichtlichen Komponente von Lebensläufen im 20. Jahrhundert.
Eingelöst wird die von Seegers geforderte Analyse der "Kriegskinder" in ihrer Bipolariät zwischen Erfahrungs- und Kommunikationsgemeinschaft insbesondere von Ulrike Jureit, Dorothee Wierling und Malte Thießen. Jureit klärt in ihrem Aufsatz zum Generationen-Gedächtnis als Konzept kommunikativer Vergemeinschaftung präzise die Begrifflichkeiten. Die Autorin fasst Generation als eine "relationale Selbstthematisierungskategorie" und macht plausibel, dass eine solche Selbstthematisierung als "kommunikative Erinnerungsgemeinschaft" verstanden werden kann. Sie klärt darüber hinaus den Bestand möglicher konstitutiver Erfahrungen, die man sinnvollerweise als einschneidende, geteilte Erfahrungen "der Kriegskinder" auffassen könnte und die ein spezifisches Deutungsbedürfnis entstehen lassen konnten: Abwesenheit und Verlust von Bezugspersonen (insbesondere des Vaters) sowie massive erlebte oder imaginierte Gewalterfahrungen usw. (128f.)
Statt nach der "Kriegskindergeneration" 'an sich' fragt Jureit in erster Linie nach den "kommunikativen Bedingungen generationeller Vergemeinschaftung" (131). Weil in ihrem Fall Gemeinschaftsstiftung und Erinnerungsleistung in eins fallen, steht die generationelle Selbstthematisierung der "Kriegskinder" unweigerlich in einem Spannungsverhältnis zur NS-Opfer-bezogenen bundesdeutschen Erinnerungskultur. Hierin sieht Jureit ein positives, irritierendes Moment der Erinnerungsleistung der "Kriegskinder", die einen "stark reglementierten Diskurs in Frage" stellten und damit zu einer wünschenswerten "Pluralität von Erinnerungserzählungen" beitrügen. (135)
Dorothee Wierlings Text formuliert einige Kernaussagen bereits im Titel: "'Kriegskinder': westdeutsch, bürgerlich, männlich?". Sie sieht die Entstehung der neuen "Generation" als Produkt zweier gegenläufiger Erzählstränge: der Selbstbeschreibung von Betroffenen, die bisweilen zugleich als Wissenschaftler sprechen, und einer kritischen Kommentierung dieser Selbstbeschreibung, die in der Rede über die "Kriegskinder" vor allem einen problematischen Anschluss an Selbstviktimisierungsbeiträge in der deutschen Öffentlichkeit erkennt. (143) Sie verweist zu Recht auf eine fehlende Trennschärfe in der Verwendung des Kriegskinderbegriffs, der zwischen analytischer Kategorie und "kulturpolitische[m] Programm" (145) changiert. Indem Wierling zudem die dominante Sprechergruppe untersucht, bei der es sich um eine erstaunlich homogene Einheit aus etwa 50 westdeutschen, wissenschaftsaffinen Männern handelt, kann sie die perspektivischen Verzerrungen des Kriegskinderdiskurses, der fälschlicherweise vorgibt, für alle Kriegskinder zu sprechen, klar benennen. Gerade die Verwischung der Grenzen zwischen autobiografischer Erzählung und wissenschaftlicher Auseinandersetzung und die damit gegebene Gefahr einer mangelnden Distanz zum Gegenstand arbeitet sie präzise heraus. Sie plädiert dafür, "Kriegskinderschaften" als Indikatoren sich wandelnder Selbstverständnisse der deutschen Nachkriegsgeschichte selbst zu historisieren.
Malte Thießens klar strukturierter Beitrag misst das Verhältnis von öffentlicher und individueller Erinnerung am Beispiel der Hamburger Luftkriegsereignisse aus und verweist auf vielfältige gegenseitigen Bezugnahmen. Lokale Erinnerungsrituale und -erzählstränge bildeten nach 1945 notwendige und anschlussfähige Anlässe für individuelle Erinnerungen, ermöglichten die intergenerationelle Weitergabe von Erfahrungen und gaben zugleich Muster vor, die der individuellen Erfahrungsdeutung als Folie dienen konnten. Thießen hebt hervor, dass individuelle Erinnerungen damit sowohl in den "Referenzrahmen" von Familiengedächtnissen als auch in kommunale und nationale Gedächtnislandschaften eingebettet blieben. Sein Hinweis auf lokale Tradierungen und ihre Effekte für Formen der individuellen, Sinn stiftenden bzw. fortschreibenden Erinnerungsleistung schöpft erkennbar und überzeugend aus eigener Forschungsarbeit.
Manches in diesem Band kennt man bereits aus anderen Veröffentlichungen. Das ist ein kleines Problem. Ein größeres wird - etwa bei Dorothee Wierling - zum Teil in den Beiträgen selbst thematisiert. Wenn man die erfahrungsgeschichtliche Dimension des Themas ernst nimmt, wird man nicht umhin kommen, die sehr disparaten Erfahrungsmöglichkeiten etwa der Jahrgänge 1930 und 1945 zu problematisieren. Spätestens hier dürfte deutlich werden, was einzelne Beiträge in diesem Band immer wieder betonen: Dass für die Rede über die (eigene) "Kriegskindergeneration" bisweilen mediale Erzählpatterns wichtiger sind als vermeintlich geteilte Erfahrungen. Der vorliegende Band versammelt in dieser Hinsicht wichtige Distanzierungs- und Klärungsansätze.
Lu Seegers / Jürgen Reulecke (Hgg.): Die "Generation der Kriegskinder". Historische Hintergründe und Deutungen (= Psyche und Gesellschaft), Gießen: Psychosozial 2009, 184 S., ISBN 978-3-89806-855-0, EUR 22,90
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