Im Wintersemester 2008/09 wurde am damaligen Institut für Geschichte und historische Landesforschung der Universität Vechta die Historische Ringvorlesung "Probleme europäischer Verfassungsgeschichte" abgehalten. Dieser Sammelband ging aus ihr hervor. Er präsentiert der Leserschaft, nachfolgend der programmatischen Einleitung der Herausgeber, zehn Beiträge, deren zeitlicher Horizont sich von der griechischen Antike bis ins 21. Jahrhundert erstreckt. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der europäischen Geschichte, hinzu treten Studien zu China und Nordamerika. Um es vorweg zu nehmen: Alle Studien sind anregend und lesenswert, auch wenn man sie zunächst nicht zwingend in einem Band vereint erwartet hätte.
Die Spanne zwischen den Themen ist recht weit: chinesische Verfassungsentwicklung und -diskurs im China des 19. bis 21. Jahrhunderts (Helwig Schmidt-Glintzer, 15-33), deutsche Verfassungsgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis Weimar (Ludwig Biewer, 35-59), die nicht ausbalancierte Verfassung der Habsburger Monarchie im 19. Jahrhundert (Hans Henning Hahn, 61-81), der hannoversche Staatsdiener Friedrich Ludwig von Berlepsch und sein Zerwürfnis mit der hannoverschen Regierung (Bernd Ulrich Hucker, 83-98), die Datierung des Unabhängigkeitsgedankens in den nordamerikanischen Kolonien (Eugen Kotte, 99-125), ein Stadtvergleich zwischen dem spätmittelalterlichen Florenz und Dortmund mit Blick auf Sitz, Architektur und Nutzung öffentlicher Gebäude (Ulrich Meier, 127-150), die Rolle erzählter und gelebter Polygynie für die Thronfolge im hochmittelalterlichen Norwegen (Jan Rüdiger, 151-174), der Zusammenhang zwischen der Sakralität des Herrschers und dem hochmittelalterlichen Reisekönigtum (Franz-Josef Arlinghaus, 175-192), Krieg als historiographisches Legitimationsmittel frühmittelalterlicher Königsherrschaft (Thomas Scharff, 193-210), 'Basisdemokratie' als politische Kultur im antiken Athen (Ralph Häussler, 211-239).
Die Studien sind in chronologisch rückläufiger Abfolge angeordnet. Jedem Aufsatz ist eine eigene Bibliographie angefügt, die über Forschungsliteratur und Quellen informiert. Ein Autorenverzeichnis schließt das Sammelwerk (241). Dagegen findet sich kein Sach- und Personenregister. Dies darf auch hier nicht als entbehrlich gelten, obwohl die Herausgeber kurze Inhaltsüberblicke zu den einzelnen Beiträgen geben (10-13). Keineswegs überflüssig wäre in jedem Fall ein Nachwort gewesen, in dem die (bewusst) disparaten Studien sich aus der Sicht der Herausgeber auf das Anliegen des Bandes hätten verorten lassen.
Dieses Anliegen bedingt die Anordnung der Beiträge: Die Herausgeber sehen in der Anwendung des 'modernen' Begriffs 'Verfassung' auf Formationen auch des Mittelalters und der Frühen Neuzeit eine "fruchtbare begriffliche Transaktion" (8-9). Damit einher geht ein Bedürfnis nach ebenso sichtbarer Abgrenzung gegenüber Verfassungsgeschichte als Entwicklungsgeschichte, die ihre Gegenstände hin auf den 'modernen Verfassungsstaat' ordnet. Arlinghaus, Hucker und Kotte wollen der Leserschaft erkennbar eines nicht anbieten: eine weitere "Beschreibung der Genese des modernen Verfassungsstaats, die lediglich retrospektiv konstituiert werden kann" (7), eine klassische 'Vorgeschichte' des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats westlicher Prägung, die diesen selbst zum Maßstab der historischen politischen Gemeinwesen und ihrer Rechts- und Wertordnungen macht. Gefunden haben die Herausgeber eine solche in der rechtshistorischen Verfassungsgeschichte von Werner Frotscher und Bodo Pieroth; zu Recht: Frotscher und Pieroth haben das Wort des Staatsrechtslehrers Hermann Heller (1891-1933) von der Geschichte "aus der Perspektive des Jetzt gesehen" [1] bewusst in den Dienst der eigenen Lehre gestellt. [2]
Einem solchen Verständnis von Verfassungs(rechts)geschichte begegnen die Herausgeber mit dem Gedanken, die Ansätze und Ergebnisse neuerer historisch-kulturwissenschaftlicher Forschung für die Verfassungsgeschichte fruchtbar zu machen: das, was durch die 'Münsteraner Schule' für die sogenannte 'Vormoderne' durch die Fokussierung symbolisch-ritueller Kommunikation an Wissen generiert worden ist. Der 'cultural turn' soll die Rechtsgeschichte erreichen und dabei die Erkenntnischancen traditioneller rechtshistorischer Forschung erweitern, nicht diese Forschung selbst abwerten, wie die Herausgeber betonen (8).
Nun ist der Begriff 'Verfassung' selbst nicht absolut, nicht einmal in der 'Moderne'. Die Juristen sind sich dessen bewusst, wie auch ein Diktum Peter Häberles zeigt: "Juristisch gesehen hat ein Volk eine Verfassung, erweitert kulturell betrachtet ist es in (mehr oder weniger guter) Verfassung!" [3] Der Begriff changiert zwischen einem normativen und einem empirischen Verständnis, zwischen einer verbindlichen, rechtlichen Grundordnung und dem faktischen Zustand, der Verfasstheit, in der und in deren Bewertung durch die Zeitgenossen freilich das Rechtsverständnis der Akteure mit zum Ausdruck kommt. Es kann von daher, streng genommen, auch nicht 'die eine Verfassungsgeschichte' geben, nicht einmal 'die eine rechtshistorische Verfassungsgeschichte'. Frotscher und Pieroth haben einen in der Rechtsgeschichte häufig beschrittenen, aber nicht den alleinigen Weg gewählt. Dietmar Willoweit etwa setzt dezidiert nicht auf den 'modernen', sondern auf einen historischen Verfassungsbegriff, für den aber das Rechtliche kennzeichnend bleibt. [4] Michael Kotulla benennt, in ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber dem Konzept Hellers / Frotschers und Pieroths, als "Anliegen" der Verfassungsgeschichte als historisch forschender Disziplin, "längst ausgestandene Situationen und in ihrer Wirkung überholte menschliche Verhaltensweisen für uns Heutige begreifbar zu machen". [5] In der Rechtsgeschichte kann sich auch der Begriff 'Verfassung' nicht der 'Historizität des Rechts' entziehen. "Er hat vielmehr zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene politische und rechtliche Bedeutung gehabt. Diese Bedeutungen haben sich entwickelt und verändert je nach der politisch-sozialen Gesamtsituation, in der die Verfassung Geltung erlangte und ihre Wirksamkeit entfaltete. Hinzu getreten sind die von der jeweiligen Situation nicht unbeeinflußten, ebenfalls sich verändernden Verfassungstheorien und -ideologien, d.h. die Vorstellungen über die Verfassung". [6] Es wäre wünschenswert gewesen, dass sich die Herausgeber auch gegenüber einer solchen rechtshistorischen Verfassungsgeschichtsschreibung in der Einleitung positioniert hätten, um das Besondere ihres Ansatzes sichtbar werden zu lassen.
Bei Heller hatte Geschichte "aus der Perspektive des Jetzt" eine exkludierende Funktion. Er wollte sich auf den "Staat, wie er sich seit der Renaissance im abendländischen Kulturkreis ausgebildet hat" [7], konzentrieren, betonte, dass man zwischen Antike und Mittelalter, Mittelalter und Neuzeit 'nur' Veränderungen, nicht Entwicklungen, ausmachen könne. Heute würde er die Grenzen vielleicht noch enger ziehen. Die Herausgeber versprechen sich von der durch sie angeregten historisch-kulturwissenschaftlichen Mehrung verfassungsrechtshistorischer Forschung demgegenüber die Eröffnung der Möglichkeit, "auch vormoderne Verfassungen in den Blick zu nehmen" (8), und zwar nicht ausschließlich als "'Rechtsgeschichte von Verfassungsgesetzen' [8]" (8), sondern als 'Kulturgeschichte politischer Ordnung(en)'; dass in einer solchen gerade das Rechtliche Gefahr läuft, unterbelichtet zu werden, hat Martin Kirsch in seiner Besprechung von Reinhards 'Geschichte der Staatsgewalt' (1999) ausgeführt. [9] Das vorliegende Sammelwerk könnte dies unfreiwillig bestätigen: Kein Rechtshistoriker im strengen Sinn hat mitgewirkt.
Der Band sollte gleichwohl durch die rechtshistorische Verfassungsgeschichte als Diskursangebot der historisch forschenden Kulturwissenschaften verstanden werden. Grundsätzlich macht diese Herausgabe abermals deutlich, wie ertragreich ein solcher Diskurs für alle sich beteiligenden Disziplinen sein kann, ein Stück weit selbst im wechselseitigen Missverstehen. Dies haben bereits die auf dem 37. Deutschen Rechtshistorikertag (2008) in Passau gehaltenen Vorträge von Barbara Stollberg-Rilinger und Wolfgang Reinhard sowie deren seinerzeit angeregte, teils recht kontroverse Diskussion gezeigt. [10]
Anmerkungen:
[1] Hermann Heller: Staatslehre. In der Bearbeitung von Gerhart Niemeyer, 6., revidierte Auflage, Tübingen 1983, 40.
[2] Werner Frotscher / Bodo Pieroth: Verfassungsgeschichte, 9., überarbeitete Auflage, München 2010, 2.
[3] Peter Häberle: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, in: Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, herausgegeben von Gerold Blümle und anderen (=Kulturelle Ökonomik, 1), Münster 2004, 139-152, hier: 140.
[4] Dietmar Willoweit: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 6., erneut erweiterte Auflage, München 2009, 2-3.
[5] Michael Kotulla: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495-1934), Berlin, Heidelberg 2008, 2.
[6] Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: Festschrift für Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag 28. Juli 1983, herausgegeben von Arno Buschmann und anderen, Bielefeld 1983, 7-20, hier: 7.
[7] Heller: Staatslehre, 39.
[8] Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3., durchgesehene Auflage, München 2002, 17.
[9] Martin Kirsch: Rezension zu: Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, in: H-Soz-u-Kult, 06.09.2000, http://www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=491.
[10] Die damalige Kritik an Reinhards Thesen bei: Jakob Fortunat Stagl: Bericht über den 37. Deutschen Rechtshistorikertag vom 9. [!] bis 11. September in Passau, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 126 (2009), 667-673, hier: 672.
Franz-Josef Arlinghaus / Bernd Ulrich Hucker / Eugen Kotte (Hgg.): Verfassungsgeschichte aus internationaler und diachroner Perspektive, München: Martin Meidenbauer 2010, 239 S., ISBN 978-3-89975-210-6, EUR 39,90
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