Wie unvollständig unser Bild von den Kommunikationsverhältnissen in Gesellschaften früherer Jahrhunderte bleibt, wenn darin nicht auch die oft unsichtbaren Verbreitungswege verbotener oder aus gutem Grund geheim gehaltener Literatur Berücksichtigung finden, haben spätestens die am Beginn der 1980er Jahre erschienenen Arbeiten von Robert Darnton gezeigt, in denen er die Bedeutung des "literarischen Untergrunds" für das vorrevolutionäre Frankreich eindrucksvoll aufgewiesen hat. Seine Forschungen haben auch in Deutschland viel Beachtung, zunächst aber wenig Nachfolge gefunden.
Ein Arbeitsgespräch zum Thema "Geheimliteratur und Geheimbuchhandel im 18. Jahrhundert", das im Dezember 2008 an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel als Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte stattgefunden hat, ist als erfreuliches Zeichen von Bemühungen zu werten, Defizite der Zensurforschung in Deutschland systematisch zu beheben. Die Organisatorin der Tagung, die Münchner Buchwissenschaftlerin Christine Haug, hat allerdings schon im Vorfeld, seit Mitte der 1990er Jahre, einiges an Vorarbeiten dazu geliefert und die Diskussion um die Phänomene klandestiner Buchproduktion und -distribution in der deutschen Aufklärung auf interdisziplinärer Ebene in Gang gebracht. Zum Wolfenbütteler Arbeitsgespräch waren denn auch Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher Fachrichtungen erschienen, Philosophiehistoriker ebenso wie Literatur- und Buchwissenschaftler, Skandinavisten und Romanisten. Der bemerkenswert gediegen ausgestattete und sauber redigierte Band, der die zwölf für den Druck überarbeiteten Vorträge vereint, erfreut dementsprechend durch eine Vielfalt der Ansätze und Blickwinkel, wirkt dadurch aber auch - wie im Grunde jeder Sammelband dieser Art - einigermaßen heterogen.
Unter diesen Umständen kann es als Glücksfall gewertet werden, dass sich Christine Haug in ihrem Einleitungsbeitrag nicht darauf beschränkt, die übliche Kurzvorstellung der einzelnen Beiträge vorzunehmen, sondern eine komplette Matrix entwirft, in der jeder einzelne Aufsatz exakt verortet werden kann. Sie steuert dazu aus eigenen Forschungsergebnissen zahlreiche 'missing links' bei, sodass sich für den Leser der Inhalt des Bandes zu einem kompletten Panorama zusammenschließt. Zum einen kann er die Detailstudien entlang einer Zeitachse ordnen, die von Christine Haug als eine Drei-Phasen-Abfolge charakterisiert wird: War in der Frühaufklärung häufig noch die handschriftliche Kopie, die innerhalb eines begrenzten Personenkreises in Umlauf kam, ein durchaus gängiger (und überraschend gut funktionierender!) Modus der subversiven Distribution, so kam es um die Mitte des 18. Jahrhunderts im Zeichen gedruckter Konterbande zu einer raschen Kommerzialisierung und Professionalisierung in der Produktion und Distribution der meist religionskritischen und radikalaufklärerischen Schriften, die sich somit zu spekulativen Handelsobjekten entwickelten. Eine dritte Phase setzte ein mit der zunehmenden Verbreitung "frivoler", zunächst provokant libertärer Literatur, bis um 1800 dann ein eigener Markt für ganz unpolitische, für Verlag und Buchhandel jedoch überaus lukrative erotisch-pornographische Literatur entstand. Beiträge, die diese Zeitachse illustrieren, befassen sich mit dem "klandestinen Souterrain", das in der frühen Aufklärung etwa mit atheistischen Schriften entstand (Winfried Schröder), mit dem gewinnbringenden Einstieg der Verleger und Buchhändler in subkutane Vertriebsnetze und in das "Geschäft mit der Revolution" (Julia Bohnengel, Guido Naschert) oder mit der Produktion von Erotika, die schon in ihren Paratexten und ikonographischen Signalen viel über die zeichenhafte Verständigung verraten, die zwischen Verlegern, Buchhändlern und den Konsumenten dieser diskret gehandelten Literatur stattfand (Franziska Mayer).
Die Einleitung des Bandes vermittelt darüber hinaus eine umfassende Vorstellung von der Topographie des europäischen Geheimbuchhandels, von dessen Kommunikationsachsen und Knotenpunkten, auch von der frappanten Internationalität, welche dieser gleichsam unterirdische Kommunikationsraum im Laufe des Jahrhunderts entwickelt hat. Frankreich bildete stets einen Bezugspunkt und ein Zentrum des Geschehens, eine wichtige Rolle spielten aber auch die Niederlande als ein Hauptumschlagplatz verbotener Literatur, Produktionsstandorte wie Neuchâtel oder Handelsplätze wie Leipzig (mit seinem System des in keiner Weise inkriminierbaren Kommissionsbuchhandels, der immer nur im Auftrag Dritter agierte). Entstanden war so ein Kommunikations- und Vertriebsnetz, das von Lissabon bis St. Petersburg reichte und in seiner Süd-Nord-Erstreckung Venedig ebenso einschloss wie Wien, Prag und Berlin oder auch Kopenhagen. Auf diese räumlichen Konstellationen beziehen sich mehrere Beiträge, indem sie etwa einen Vergleich der Zensurpraxis zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich vornehmen (Wilhelm Haefs) oder verschiedene Methoden des französisch-deutschen Kulturtransfers beleuchten. Martin Mulsow gelingt dies mit einer exemplarischen Studie zu Christian Ludwig Paalzow, einem preußischen Kriegs- und Domänenrat, der mit Mitteln der Montage, Adaption und Übersetzung radikale Staats- und Religionskritik in die deutschen Lande einschleuste, während Martin Schmeisser zeigen kann, wie wirkungsvoll das materialistische Gedankengebäude des Baron d'Holbach über Rezensionen in Zeitschriften in Deutschland rezipiert werden konnte. Die Verhältnisse in der Habsburgermonarchie werden von Johannes Frimmel und Michael Wögerbauer untersucht; sie arbeiten die besondere Rolle der österreichischen bzw. böhmischen Länder in der Herausbildung geheimer Netzwerke heraus - Resultat eines umfangreichen und daher letztlich unkontrollierbaren Buchimports. Zwei weitere Beiträge zum transnationalen Bücherschmuggel führen in den Norden und in den äußersten Südwesten Europas: Jens Glebe-Møller vermittelt einen ersten Eindruck von der Zirkulation der Geheimliteratur im skandinavischen Raum, Thomas Bremer leistet dies für Spanien und Portugal.
Fast noch wichtiger als diese zeit-räumliche Orientierung ist aber die systematisierende Sichtung der einschlägigen Problemaspekte und Forschungsaufgaben, die mit diesem Tagungsband entscheidend vorangetrieben wurde. Vielfältig bestätigen sich darin die positiven Wirkungen der deutschen Kleinstaaterei, indem nämlich die territorialstaatliche Struktur des Heiligen Römischen Reiches eine Unterbindung des subversiven Schriftenverkehrs faktisch nicht zuließ. Ebenso wenig ließ sich in diesen vormetternichschen Zeiten eine Bücherkontrolle gesamteuropäisch koordinieren. Trotzdem sind hinsichtlich der Durchlässigkeit der Grenzen und Strukturen nicht alle Fragen geklärt, auch wenn die Umgehung staatlicher Kontrollen um 1800 zu einer Routineangelegenheit geworden sein dürfte. Wie aber ist die Dialektik zwischen Zensurstrenge und blühendem Geheimbuchhandel zu sehen: Waren Bücherverbote nicht die Voraussetzung dafür, dass im Buchhandel glänzende Geschäfte gemacht werden konnten? Gerade die Vergleiche mit Frankreich lassen erkennen, dass in Bezug auf die deutschen Territorien nicht so sehr von einem "literarischen Untergrund" gesprochen werden sollte wie von einem semiöffentlichem Raum (allenfalls könnte man das Paradox einer "Untergrund-Öffentlichkeit" in Betracht ziehen). Überwacht wurden in erster Linie die Druckereien, um unerwünschte Literatur am Entstehungsort abzufangen; aus den Fall- und Länderstudien des Bandes geht hervor, dass eine Behinderung des Handels vielfach schon aus ökonomischen Erwägungen heraus unterblieb.
Eine Vertiefung dieser Erkenntnisse erscheint möglich und wünschenswert, hauptsächlich in Richtung einer möglichst vollständigen Rekonstruktion der länderüberspannenden Distributionsnetzwerke und grenzüberschreitenden buchhändlerischen Geschäftsverbindungen unter Identifizierung ihrer Hauptakteure. Für eine Beseitigung von weißen Flecken auf der deutschen und europäischen Landkarte des Geheimbuchhandels werden fraglos weitere Territorial- und Länderstudien benötigt; so könnten die Auswirkungen differenter politischer, konfessioneller oder kultureller Rahmenfaktoren auf die Entstehung literarischer Unterwelten klarer beurteilt werden. Reizvoll wäre auch eine Bestandsaufnahme der Verschleierungsstrategien, mit denen auf höchst einfallsreiche Weise die Produktion und Distribution von Druckwerken der Kontrolle und Verfolgung entzogen werden sollten. Und nicht zuletzt sollte jener Vorgang der "allmählichen Kommerzialisierung der klandestinen Textproduktion" (Christine Haug) noch viel genauer erforscht werden, der zur Entstehung eines florierenden Marktes geführt hat, auf dem zuerst Aufklärung und Revolution und am Ende Libertinage und Pornographie zum einträglichen Gewerbe gemacht werden konnten. Der Tagungsband liefert zu all diesen kultur- und sozialgeschichtlich aufschlussreichen Konstellationen und Prozessen wichtige Mosaiksteine und Vorarbeiten, lässt aber auch bereits die Umrisslinien erahnen, die das fertige Bild einmal haben könnte.
Christiane Haug / Franziska Mayer / Winfried Schröder (Hgg.): Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens; Bd. 47), Wiesbaden: Harrassowitz 2011, 300 S., mit 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-06478-1, EUR 78,00
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