Das Mittelalter ist ein dunkler Ort, schmutzig, roh und gläubig. Dieses Mittelalterbild herrscht nach landläufiger gelehrter Meinung in den Köpfen des sogenannten breiten Publikums, das entsprechend immer wieder neu zu einem differenzierteren, wahrheits- und wirklichkeitsnäheren Blick auf die Epoche anzuhalten ist. Den unzähligen Werken dieses Typs gesellt sich nun mit dem vorliegenden Sammelband ein weiteres hinzu, das sich, der Untertitel "Erinnerungsorte eines Jahrtausends" legt dies nahe, zugleich einem ganz grundsätzlichen, didaktischen Problem heutiger Geschichtswissenschaft stellen muss. Die konstruktivistische Wende und der linguistic turn mitsamt den ihm folgenden Hakenschlägen haben festgeschrieben, dass es nicht damit getan ist und nicht getan sein kann, zu beschreiben, wie es eigentlich gewesen ist. Geschichte ist narrativ und Klio dichtet. Doch was soll man nun den Menschen sagen? Der Vorteil der alten Meistererzählungen, der Schlachten- und Zahlenreihen, der wackeren Helden und weisen Königinnen lag ja nicht zuletzt darin, dass sie Vergangenheit in einen logischen Erzählzusammenhang brachten. Die Herausgeber Johannes Fried und Olaf B. Rader setzen sich implizit das Ziel, moderne historische Kulturwissenschaft einem allgemein interessierten Publikum nahezubringen. Ihr Werk steht in Anspruch, Umfang und Gestaltung damit in einer Reihe mit den ebenfalls bei C. H. Beck erschienenen Bänden "Erinnerungsorte der Antike". [1]
Fried und Rader kommen in ihrem sehr kurzen Vorwort nach einleitenden Überlegungen zur Entwicklung der Mittelalterwissenschaft schnell zu den Erinnerungsorten, setzen den Begriff aber offensichtlich als bekannt voraus. Dies ist umso bedauerlicher, als eine nicht repräsentative Umfrage der Rezensentin für den Begriff Erinnerungsort Interpretationsansätze zwischen Gehirn und Denkmal erbrachte, was eine grundsätzliche Erklärungsbedürftigkeit des Begriffes zumindest nahelegt. Fried und Rader setzen stattdessen auf doch sehr fachsprachliche Ausführungen zu loci memoriae und diachronen Phänomenen, die dann in einen erstaunlich banalen und auch konzeptionell recht konventionellen Schluss münden: "So finster scheint es [das Mittelalter] ja gar nicht gewesen zu sein" (11). Nebenbei: Was kann dieser Satz vor dem Hintergrund der zuvor beschworenen Erinnerungsräume und Wandlungsprozesse kultureller Gedächtnisinhalte in europäischen Dimensionen eigentlich bedeuten? Dem Interessierten seien die Einleitungskapitel der beiden obengenannten Bände zur Antike empfohlen, die Konzept und Nutzen der "Erinnerungsorte" weitaus klarer präsentieren.
Der Band gliedert sich in sieben Kapitel unter den eher zufällig wirkenden Überbegriffen Schauplätze, Bauten, Bedrohungen, Personen, Pergamente, Ideen und Institutionen, die bei den Pergamenten etwa die Konstantinische Schenkung und die Buchmalerei, bei den Institutionen das Mönchtum und den Untergang des Deutschen Ordens versammeln. Die Personen sind vor allem Männer. Neben Jeanne d'Arc die einzige Frau im Buch ist die Jüdin von Toledo, die aber unter den Ideen firmiert.
Im Folgenden seien einige der insgesamt 33 durchweg interessanten und anregenden Beiträge herausgegriffen, die in ihrer Gesamtheit das Konzept des Erinnerungsorts zumindest implizit zu vermitteln vermögen. So steuert Olaf Rader aus seinen Forschungen zu den Staufern und besonders Friedrich II. zwei Aufsätze bei, welche sich mit der Burg als Kristallisationspunkt der Erinnerung an das Mittelalter sowie dem Stauferkaiser mit seiner unterschiedlichen Rezeptionsgeschichte in Deutschland und Italien befassen. Mit seinen assoziativen, einen großen Zeitraum abdeckenden Ausführungen kann er, auch wenn er wie die meisten Autoren des Bandes auf eine Begründung für die Wahl seiner Sujets verzichtet, sie in ihrer Qualität als Erinnerungsorte herausstellen und erklären. Johannes Fried liefert eine faktenschwere Zusammenfassung seiner durchaus kontrovers diskutierten Forschungen zur Konstantinischen Schenkung, welche den Uneingeweihten überfordern dürfte und zudem wohl nur vor dem Hintergrund seines hier nicht erwähnten Konzeptes der Memorik verständlich ist. Der Begriff Erinnerungsort kommt im gesamten Text nicht vor, was umso bedauerlicher ist, als gerade die heute wohl weniger bekannte Schenkung weiterführende Überlegungen zu Natur, Leben und Untergang von Erinnerungsorten hätte anregen können.
Dass und auf welche Weise Personen Erinnerungsorte sein können, zeigen die so anregenden wie geistvollen Ausführungen von Johannes Helmrath zum Verfasser der Göttlichen Komödie, die mühelos den Bogen von einer nikotinbraunen Dantebüste in einem belgischen Hotelzimmer zu einem Dantedenkmal in Triest, von den bizarren Ritualen der Dantenachfolge im George-Kreis zum Nachhall der Göttlichen Komödie im Computerspiel schlagen. Auch Bernhard Jussens überzeugende Überlegungen zur Roland-Rezeption gefallen nicht zuletzt durch Humor und Anschaulichkeit, wenn er den Spuren des Roland-Mythos in Deutschland und Frankreich folgt, die sich ihren jeweils eigenen Roland schufen.
Andere Themen scheinen an einem populären Mittelalterbild orientiert. So darf die Pest nicht fehlen, die von Neithard Bulst detailreich unter dem Aspekt einer Erinnerungsgeschichte von Ohnmacht und Massensterben behandelt wird. Ebenso unter den Bedrohungen finden sich die Wikinger und ihre Schiffe, die von Daniel Föller auf die verschiedenen, die Rezeption der quellenmäßig eher mangelhaft überlieferten Seefahrer prägenden Bilder untersucht werden. Er verweist auf die Wikinger als "Projektionsfläche" (178) für kulturelle Hoffnungen und Sehnsüchte aller Art, sieht im aktuellen Wikingerbild gar eine "Spiegelung unseres eigenen Selbstverständnisses im globalisierten Spätkapitalismus" (177f.).
Doch können Erinnerungsorte auch wüstfallen, etwa wenn sie für die Selbstvergewisserung einer sich wandelnden Gesellschaft nicht mehr nutzbar gemacht werden können. Am Beispiel des Untergangs des Deutschen Ordens verfolgt Arne Karsten beispielhaft das Gedeihen und Erlöschen dieses Erinnerungsortes zwischen deutscher "Ostkolonisation" und der vertraglichen Anerkennung der deutschen Ostgrenzen, welche jeglichen Rückgriff auf ein "pseudohistorisches, recht eigentlich aber: mythologisches Argument für oder gegen die [...] Zugehörigkeit der 'Ostgebiete' zu Deutschland oder aber zu Polen" (484) obsolet machte.
Der vorliegende Sammelband möchte laut Klappentext ein Lesebuch zur Geschichte des Mittelalters sein - und das ist er auch. Man kann die gewählten Themen, die Einteilung und die Form der Einleitung sicher diskutieren, auch bleiben viele Aspekte der Welt des Mittelalters unberücksichtigt. Warum etwa kein Beitrag zur Stadt als einem Erinnerungsort, den man noch heute ganz physisch erkunden kann? Ist nicht auch die Wanderhure irgendwie ein Erinnerungsort mittelalterlicher Sozialgeschichte? Aber der Band ist ein Sammelsurium im besten Sinne, das zum Blättern und zum Schmökern einlädt, einen Überblick über unterschiedliche Gebiete mittelalterlicher Geschichte vermittelt und zudem für die grundsätzliche Wandelbarkeit von Geschichte und Geschichtsbildern sensibilisiert. Wenn gilt "[...] die Wikinger, das sind immer wir" (179), so muss von ihnen stets neu erzählt werden, um den Erinnerungsort lebendig zu halten.
Anmerkung:
[1] Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt, hgg. von Elke Stein-Hölkeskamp und Karl-Joachim Hölkeskamp, München 2006; Erinnerungsorte der Antike. Die griechische Welt, hgg. von Elke Stein-Hölkeskamp und Karl-Joachim Hölkeskamp, München 2010.
Johannes Fried / Olaf B. Rader (Hgg.): Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte eines Jahrtausends, München: C.H.Beck 2011, 560 S., 80 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-62214-4, EUR 38,00
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