Seit man vor einigen Jahrzehnten einen sog. performative turn in den Kulturwissenschaften ausrief, wird gerade den rituellen Aspekten im menschlichen Verhalten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ausgehend von der Ethnologie und Anthropologie entdeckten immer mehr Disziplinen die Deutungskraft eines Konzepts, bei dessen theoretischer Durchdringung man sich auf "Klassiker" wie Arnold van Gennep, Émile Durkheim und Marcel Mauss berufen konnte. Seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden wegweisende Arbeiten dazu von Clifford Geertz, Jack Goody, Victor Turner, Mary Douglas und Catherine Bell vorgelegt.
Die Komplexität des Themas und die vielseitige Anwendbarkeit der Begriffe ließen das Konzept ideal für einen Sonderforschungsbereich werden, der sich im Sommer 2002 unter dem Namen "Ritualdynamik" an der Universität Heidelberg zusammenfand und insbesondere Altertums-, Sozial- und Kulturwissenschaftler mit Blick auf Europa und Asien zusammenführte. Es sind weit auseinanderliegende Disziplinen wie Indologie, Medienethnologie und Medizinische Psychologie mit einem gewissen Schwerpunkt auf religionswissenschaftlichen Fächern vertreten. Aus diesem langjährigen Diskussionsverband entsprang nun das vorliegende Taschenbuch, von dessen 40 Autoren nach Ausweis der beigegebenen Kurzbiographien (229-234) die allermeisten dem SFB 619 zugehören - allerdings nur sieben im engeren Sinne Historiker sind.
Nach einem elfseitigen Überblick über aktuelle Tendenzen der Ritualforschung durch die Herausgeber werden in 27 kurzen Artikeln von bis zu drei Autoren in alphabetischer Reihung wichtige Begriffe im Zusammenhang mit dem Thema erläutert (zusätzlich erschlossen durch einen Index). Der Band nimmt damit den Charakter eines Nachschlagewerks und Handbuchs an, wobei die Knappheit seines Zuschnitts allerdings Lücken lassen muss. Auf eine übergreifende Bibliographie wurde verzichtet, dafür in jedem der sechs- bis neunseitigen Abschnitte die entsprechende Literatur angehängt (mit gekennzeichneter Lektüreempfehlung), was der Übersichtlichkeit dient. Die jeweilige Binnengliederung der Abschnitte in "Theorie/Begriffsgeschichte", "Diskussion" und "Beispiele der Forschung" bietet zwar nicht immer hinreichende Trennschärfe, so dass die drei Felder mehr als einmal ineinander übergehen, gewährt aber interessante Einblicke auch in die Arbeitsfelder der Autoren.
Etwa die Hälfte der Abschnitte behandelt direkt mit "Ritual" zusammenhängende Begriffe wie "Ritualdesign", "Ritualfehler" oder "Ritualkritik" (u.a. von Ronald L. Grimes, dessen im Jahre 1982 formuliertem Programm zu "Ritual Studies" sich der SFB laut Vorwort verpflichtet fühlt), andere nähern sich dem Themenfeld von weiter weg ("Agency", "Macht und Herrschaft" oder "Verkörperung"), wobei häufig aktuelle Theoriedebatten aufgegriffen werden. Es bleibt allerdings nicht aus, dass nicht jeder Eintrag gleich passend oder stringent auf die Grundfrage bezogen sein kann. Die Stärke des Bandes liegt in seiner Griffigkeit und perspektivenreichen Herangehensweise an einen proteischen Gegenstand, der in seiner Bedeutung für das gegenwärtige Verständnis von Kultur kaum überschätzt werden kann. Eine Schwäche liegt in der selbstauferlegten Kürze der Beiträge, so dass bei der Komplexität der behandelten Materie nicht immer ein befriedigendes Verständnis erreicht werden kann.
Christiane Brosius / Axel Michaels / Paula Schrode (Hgg.): Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen (= UTB Kunst-/Kulturwissenschaften; Bd. 3854), Stuttgart: UTB 2013, 240 S., ISBN 978-3-8252-3854-4, EUR 24,99
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