Die Vorstellung vom "frühen Dürer" gilt bis zur zweiten Italienreise, folgte man der Ausstellungskonzeption des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Danach ist der große Renaissancekünstler vermutlich erwachsen geworden. Die Unterscheidung in früh und spät oder jung und alt, vielleicht auch innovativ und konventionell half den Ausstellungsmachern und Katalogautoren jedoch überraschend gut, Genaueres über die schon so oft besprochene Persönlichkeit Albrecht Dürers zu finden.
Das ist wenig verwunderlich, stand hinter dieser traditionsreichen großen Dürerausstellung doch ein mehrjähriges Forschungsprojekt, das nicht nur die Experten vor Ort, sondern auch internationale Wissenschaftler zum Thema vereinte. In gewisser Weise gab es dafür einen Ausgangspunkt, die gemäldetechnologische Untersuchung der in Nürnberg und Florenz getrennt hängenden Elternporträts. Das Ergebnis ist die Zugehörigkeit der beiden Tafeln, die entdeckte Konzeptionsänderung bei der Hintergrundbeschreibung im Bildnis des Vaters lässt sogar vermuten, dass Dürer dieses zuerst malte.
Das eigentliche Anliegen des Forschungsprojektes war es, Dürers sozio-historisches Umfeld besser zu verstehen und so seine bahnbrechenden Neuerungen auf den Gebieten der zeichnerischen Erfahrung der Natur und der Porträtmalerei, die Entdeckung der Welt mittels künstlerischer Techniken und die Vervollkommnung der grafischen Möglichkeiten zu erklären.
Sebastian Gulden richtete dafür eine Datenbank ein, die es erlaubt, die sozialen und kulturellen Begebenheiten Dürers und seiner Familie von Anfang an nachzuvollziehen. Wer hat wo gewohnt, wie gelebt und was getan? Dank der guten Quellenlage im Nürnberger Stadt- und Staatsarchiv ließen sich viele Fakten zu Geistesströmungen und Lebensentwürfen der Personen und Persönlichkeiten im Umfeld Dürers finden. Die Säulen, auf denen Dürers Kunst steht, wie die Reisen nach Italien, die Antikenrezeption oder die Selbstverständlichkeit hoher Produktivität, lesen sich so als logische Konsequenz und sind das Ergebnis des sozialen Klimas in der Nürnberger Nachbarschaft.
Auf dieser Grundlage lieferten nun Beate Böckem, Shira Brisman, Stephanie Buck, Thomas Eser, Anja Grebe, Peggy Grosse, Ulrich Grossmann, Sebastian Gulden, Daniel Hess, Dagmar Hirschfelder, Oliver Mack, Stephanie Porras, Jörg Robert, Michael Roth, Thomas Schauerte, Peter Schmidt, Lothar Schmitt und Hartmut Scholz jeder auf seinem Gebiet umfangreiche Aufsätze, die den Ausstellungskatalog zu einer wissenschaftlichen Forschungspublikation machen. Eine summarische Orientierung dazu bieten vier Sektionen in Ausstellung und im Katalogteil, die die wichtigen Aspekte und Erkenntnisse daraus gebündelt vorstellen.
Sehr gelungen ist der erste thematische Schwerpunkt. Unter dem Titel "Das Ich und seine neuen Medien" wird deutlich gemacht, dass Albrecht Dürer in jungen Jahren dort angefangen hat, wo die großen Maler des 15. Jahrhunderts am Ende eines langen Lebens in Auseinandersetzung mit Handwerk und Technik ankamen: bei der Selbstreflektion von Bild und Produzenten und dessen Darstellung im Bild. Gezeigt werden Dürers Selbstbildnisse und frühe Porträts vor dem Hintergrund der technischen Perfektion von Beginn an. Dass dabei nicht nur das Interesse und zeichnerische Können des Vaters eine Rolle spielte, sondern die literarischen Lobpreisungen die Voraussetzung für das richtige Selbstbewusstsein lieferten, zeigen unter anderem die Schriftstücke mit dem politisch motivierten Dürer-Lob des Konrad Celtis und Christoph II. Scheurls.
Die zweite Sektion befreit unter dem Titel "Abmachen und Neumachen" vom Mythos des Künstlergenies, der aus dem Nichts Perfektion schafft. Gezeigt wird hier, wie Dürer, voller Respekt, seine Lehrer und andere kopierte. Nicht nur das bereits oft diskutierte künstlerische Verhältnis Dürers zu Michael Wolgemut und Martin Schongauer wird in vielen Bild- und Motivvergleichen anschaulich gemacht, genauso sorgfältig setzte sich Dürer mit heute weniger bekannten fränkischen Malern und Kupferstechern wie zum Beispiel dem Meister LCs auseinander. Man erfährt, dass sich Dürer an Bellinis Madonnen abgearbeitet hat, Gewandfalten das gleiche sezierende Interesse entgegengebracht wie der Landschaft oder der Aktdarstellung.
Die dritte Sektion "'Gwaltige Kunst'. Dürer als Dramatiker" untersucht unter dem Begriff des Emphatischen Dürers Konzentration auf die Betrachterwirkung. Retabel und Grafik werden eindringlicher durch die Betonung von Gesten, die hervorgehobene Rolle des Vordergrundes, der den Bildraum zur Bühne werden lässt. In dieser Sektion finden sich die frühen Altarretabel, die Basler Buchillustrationen, die großen Grafikzyklen zur Apokalypse und zum Marienleben wieder, die Risse und Entwürfe unter anderem für Tuchers Glasscheiben aber auch die religiösen und die mythologischen Einblattdrucke. Themen wie die Ausdrucksmöglichkeiten grafischer Techniken und die große Vervielfältigung und Verbreitung mischen sich dazu, sodass Ausstellungskuratoren und Forscheressays an diesem Punkt zu viel auf einmal zeigen wollen. Interessante und erkenntnisreiche Detailstudien verwässern so leider etwas im gängigen Dürerkanon. Die Bündelung aller Werke von 1490 bis um 1500 zeigt zwar Dürers Produktivität sehr beeindruckend. Die Ausrichtung der Bildkomposition auf die Betrachterwirkung ist jedoch gängiges und unweigerliches Phänomen der Zeit und nicht der ausschließliche Motor, der alle Werke vereint.
Die vierte Sektion widmet sich schließlich der Frage "Was ist Kunst?" Unter den vier Stichworten Norm, Ambition, Perfektion und Autonomie versucht die letzte Sektion die großen Frage vom Wesen und der Definition von Kunst zu stellen und sie im Werk Dürers auszumachen. Auch hier kann das Konzept, das in der Verbindung von Forschungsessays und thematisch und zugleich chronologisch gruppierten Exponaten besteht, nicht ganz überzeugen. Dieses Mal ist die Zuordnung einiger exemplarischer Werke unter die vier Aspekte etwas beliebig und zu dürftig erklärt. So stellt zum Beispiel Stephanie Porras unter dem Begriff Autonomie die Studien eines Rindermauls von zwei Seiten, den Kopf des toten Christus und das Aquarell der Weidenmühle vor. Vielleicht ist es aber auch nur der gelungene Versuch, mithilfe der vier Stichworte Dürers Kunst durch die persönlichen Lieblingsstücke der Autoren begreiflicher zu machen.
Der 600 Seiten starke Ausstellungskatalog endet mit einer Dürer-Matrix von Thomas Eser. Ähnlich der Datenbank erläutert diese systematisch die historischen Gegebenheiten chronologisch und wertet dazu Primärquellen und Sekundärliteratur aus. Diese Gründlichkeit findet sich auch in den Essays und jedem einzelnen der fast 200 Katalogeinträge, sodass die Publikation auf jeden Fall ein neuer, zu konsultierender Meilenstein in der Dürerforschung ist.
Daniel Hess / Thomas Eser (Hgg.): Der frühe Dürer. Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum vom 24. Mai bis 2. September 2012, Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums 2012, 604 S., 432 Abb., 5 Karten, ISBN 978-3-936688-59-7, EUR 46,00
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