Nachdem der im Zusammenhang mit der Hauptstadtdebatte 1991 entstandene Begriff der "Berliner Republik" zunächst eher negativ besetzt war, wandelte sich sein Charakter seit der Mitte des Jahrzehnts zum Positiven. Maßgeblichen Einfluss auf die Änderung der Konnotation hatten sowohl die Erkenntnis, dass die hier und da prognostizierten Schreckensszenarien nicht Wirklichkeit geworden waren, als auch das neue Selbstverständnis der verantwortlichen Politiker nach dem Machtwechsel von 1998. In kaum zu überbietendem Selbstbewusstsein deutete der neue Kanzler Gerhard Schröder den Regierungsumzug als "entscheidende Zäsur" hin zu einer Welt, "die mit der zwischen Tulpenfeld und Dahlmannstraße in der kleinen Stadt Bonn am Rhein gepflegten betulichen Abwendung vom globalen Geschehen nicht zu begreifen gewesen war" (13). Nachzulesen ist dieses bemerkenswerte Urteil in einem spannenden Sammelband, der die Ergebnisse einer Konferenz anlässlich des 60. Geburtstages von Manfred Görtemaker dokumentiert. Wie die Organisatoren und Herausgeber in ihrer ausgesprochen dichten Einführung über "Die Berliner Republik und die zeithistorische Forschung" (7) darlegen, verfolgen sie mit dem Band das Ziel, "die bisherigen Forschungen zur jüngsten deutschen Geschichte zusammenzuführen, den Kenntnisstand zu bündeln und daraus neue Fragestellungen für künftige Untersuchungen zu entwickeln" (23).
Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit vereint das mit zahlreichen Abbildungen ausgestattete Werk zehn Aufsätze, die sich besonders relevanten innen- und außenpolitischen sowie kulturellen und gesellschaftlichen Aspekten der Berliner Republik widmen. Im ersten Beitrag analysiert Andreas Wirsching die Regierungen von Helmut Kohl bis Angela Merkel unter dem Rubrum der "Kanzlerdemokratie" und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass diese Chiffre die Realität der Berliner Republik aufgrund der "strukturellen Beschränkungen" (54) kaum getreu widerspiegele. Auch wenn die Kanzlermacht Kohls und Merkels aufgrund ihrer herausragenden Rolle im Prozess der deutschen Einheit und während der Eurokrise eine "gewaltige politische und mediale Präsenz" habe bewirken können, lasse sich daraus keineswegs zugleich eine "höhere Ereignisbeherrschung" ableiten (54). Wirschings Befund deckt sich in gewisser Weise mit den Ausführungen von Karl-Rudolf Korte über die Veränderungen des politischen Systems der Berliner Republik. Korte diagnostiziert neben gravierenden Verschiebungen der Machttektonik eine zunehmende Entscheidungskomplexität, die von den Regierungen die Herausbildung einer "politischen Risikokompetenz" erforderten (76).
Michael Gehler rückt die Europapolitik des vereinigten Deutschland in den Fokus und betont dabei ein hohes Maß an Kontinuitäten und an Neuausrichtung und Flexibilisierung. Vor dem Hintergrund der Eurokrise testiert er der Berliner Republik des beginnenden 21. Jahrhunderts die dreifache Position als "Zentralmacht, [...] Zivilmacht und Zahlmacht Europas" (122).
Einen regelrechten Bruch mit dem Kurs der Bonner Republik konstatiert Michael Epkenhans in Bezug auf die deutsche Sicherheitspolitik. Nach Jahrzehnten der selbst auferlegten Zurückhaltung habe die Bundesrepublik seit den späten 1990er Jahren erkannt, dass "außenpolitische Verlässlichkeit und Berechenbarkeit auch durch substanzielle, dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gewicht entsprechende Beiträge zu demonstrieren" sei (151). Ungeachtet ihrer wiederholten Beteiligung an militärischen Einsätzen im Ausland sieht Epkenhans gleichwohl Anzeichen einer "anhaltende[n] Weigerung aller Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, offen über die außen- und sicherheitspolitischen Interessen der Berliner Republik zu diskutieren, diese zu definieren und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen". Die von ihm aus diesem Befund abgeleitete "Renationalisierung der deutschen Außenpolitik" (156) schimmert auch in den Debatten der Intellektuellen über die Auslandseinsätze der Bundeswehr, die Reform des Sozialstaates oder die Aufarbeitung der beiden Diktaturen durch, die Dominik Geppert als Ausdruck eines neuen nationalen Selbstverständnisses interpretiert.
Den Umgang der Berliner Republik mit dem Erbe der zweiten deutschen Diktatur beleuchtet Hermann Wentker und legt dabei das zweifache Problem einer "geteilte[n] Erinnerung an die DDR" (226) in Ost- und Westdeutschland und einer "doppelten Diktaturvergangenheit" (228) frei. Elemente der Kontinuität und der Diskontinuität identifiziert Thomas Brechenmacher in seinem Beitrag über die Entwicklung der Kirchen in der Berliner Republik: einerseits einen Trend zur Entkirchlichung und Entchristlichung der Gesellschaft, andererseits die fortbestehende Funktion der Kirchen als "Sachwalter der Transzendenz" (224).
Am Ende der gewinnbringenden Lektüre steht der überzeugende Nachweis, dass die aufgeregten Diskussionen um die politische Interpretation des Begriffs Berliner Republik der Vergangenheit angehören. Wie die Herausgeber zu Recht hervorheben, steht dieses neue Kapitel deutscher Geschichte weder abgeschlossen noch losgelöst für sich allein, sondern ist und "bleibt in die Geschichte der Bundesrepublik eingebettet" (17).
Michael C. Bienert / Stefan Creuzberger / Kristina Hübener u.a. (Hgg.): Die Berliner Republik. Beiträge zur deutschen Zeitgeschichte seit 1990 (= Zeitgeschichte im Fokus; Bd. 2), Berlin: BeBra Verlag 2013, 272 S., 60 s/w-Abb., ISBN 978-3-95410-101-6, EUR 19,95
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