Seth Kendall hat sich in seinem umfangreichen Werk (944 Seiten) einem Thema zugewandt, über das eine kohärente Gesamtdarstellung in der Forschung zur römischen Republik bisher fehlt, dem bellum sociale und seinem Fortwirken im römischen Bürgerkrieg. Bereits der Titel seines Buches macht zwei Grundannahmen deutlich, die die gesamte Darstellung durchziehen: Zum einen lehnt Kendall die von Mouritsen u.a. vertretene These, im bellum sociale sei eine Unabhängigkeit der Italiker von Rom erstrebt worden, klar und entschieden ab - es ging für Kendall allein und in jeder Phase allein um das römische Bürgerrecht für die Italiker. Zum anderen schreibt er seine Geschichte in der Fortführung des Syme´schen Modells vom Ten-Years-War als Geschichte eines fortdauernden Konflikts, der auch die Phase des sullanischen Bürgerkriegs umfasste und entscheidend prägte.
Nach einem Blick auf die disparate Quellenlage (29-68) wendet sich Kendall zunächst der Frage nach den Ursachen des Konflikts zu (69-138). Er fokussiert dabei neben den oft diskutierten Punkten (Ungleichbehandlung im Militär, Vertreibungen aus der urbs etc.) vor allem die Ackerpolitik der Gracchen und arbeitet pointiert heraus, in welchem Ausmaß die Neuverteilung des ager publicus auch die Italiker betraf und wie die Gracchen bzw. die eingesetzte Dreierkommission das zuvor selbst forcierte Problem durch eine Verknüpfung mit dem Bürgerrechtsproblem zu lösen hoffte. Der Frage, warum gerade 91/90 v. Chr. die Kämpfe ausbrachen, geht Kendall mit einigen bemerkenswerten Aussagen nach (139-222): Der Mord an Livius Drusus sei nicht der Auslöser gewesen, vielmehr sei der Aufstand länger geplant worden und habe erst im folgenden Frühjahr begonnen werden sollen. Eine umfassende römische Untersuchung bevorstehender Unruhen sei bereits auf den Weg gebracht worden, als einer der dafür entsandten Propraetoren in Asculum erschlagen worden sei - dieser sei Teil einer umfassenden Untersuchung bei den socii gewesen. Das meiste kann Kendall im Detail in Auseinandersetzung mit einer durchaus schwierigen Quellenlage durchaus plausibel machen, wobei manches Konjektur bleibt, aber kaum je etwas im Widerspruch zum Wortlaut der Quellentexte steht. Insofern sei der Aufstand früher losgebrochen als von den Italikern selbst geplant. Daher sei dann die (in der Forschung sonst auch bisweilen bezweifelte) Gesandtschaft nach Rom abgegangen, die ein letztes Friedensangebot gemacht habe. Mit detaillierter und sehr akribischer Quellenarbeit, die ein Merkmal der gesamten Studie ist, folgt dann eine minutiöse Rekonstruktion der Kriegshandlungen und der Strategien der beiden Seiten bis 88 v. Chr. (223- 352). Um seine Kernthese, es sei stets nur um die Erlangung der civitas, nicht aber um Unabhängigkeit von Rom gegangen, zu stützen, interpretiert Kendall die Aktivitäten der Italiker als secessio nach dem historischen Rollenmodell der innerrömischen Auseinandersetzungen. Die Tragfähigkeit dieses Modells wäre allerdings wohl noch genauer zu überprüfen. Die lex Iulia, früher oft fälschlich als Ende und Lösung des Konflikts interpretiert, sieht Kendall (wohl nicht zu Unrecht) eher als Auftakt zur weiteren Verlängerung und Transformation des Konflikts: Das Gesetz habe bewusst offen gelassen, wo die neuen cives eingruppiert wurden - nachdem die kurzfristige Entlastung im Konflikt erreicht worden sei, sei für die Italiker das böse Erwachen gekommen, als sie sich um das Abstimmungsrecht in Rom weiter betrogen gesehen hätten. Diese These bildet den Übergang zu Kendalls Darstellung des folgenden Konflikts des römischen Bürgerkriegs (353-632): In seiner Darstellung bildet der Konflikt zwischen den novi cives und den veteres cives in der Folgezeit ein Grundaxiom des Konflikts - das durchaus interessante neue Schlaglichter auf zentrale Figuren des Bürgerkriegsgeschehens wirft, wenn Kendall etwa Cinna in seinen Anfängen deutlich von Marius separiert und deutlich macht, wie vorsichtig der Consul zu Anfang operiert und schließlich durch das offensive Spielen der Karte der novi cives nicht nur eine erstaunliche Beruhigung des Gesamtkonflikts erreicht, sondern auch eine Lösung des seit der lex Iulia und ihren Folgegesetzen schwelenden Problems der Eingruppierung der neuen Bürger bieten konnte, die durchaus Kompromisscharakter hatte. Die Schlusskapitel schließlich sind dann dem siegreichen Sulla gewidmet, der zwar Entgegenkommen signalisierte, sich aber dann unter dem Eindruck des erneuten Aufstands etwa der Samniten zu kompromissloser Härte entschloss und damit dem Konflikt eine blutige Dynamik gab, ohne dass (jedenfalls in Kendalls Sicht) damit ein völliger Rollback verbunden gewesen wäre. In den Kernfragen optimatischer Politik erscheint Sulla aber auch hier als kompromissloser Hardliner: Die Abschaffung der Censur habe auch eine Eingruppierung der neuen Bürger in die Centuriatskomitien verhindern sollen, so Kendall. Eine grundlegende Neuorientierung der römischen Politik sei dann erst mit der augusteischen tota-Italia-Politik erfolgt. Die optimatische Seite des Senats erscheint bei Kendall stets als eine harte, jeden Kompromiss ablehnende, erstaunlich intransigente Partei: Wer immer die Partei der Italiker ergreift, wird mit unerbittlicher Härte verfolgt und verliert meist auch sein Leben - weil es um die Kerninteressen von politischer Machstellung und Besitzinteressen dieser kleinen Elite ging.
Aus Platzgründen können kaum alle prägnanten Thesen Kendalls hier erörtert werden, z.T. hat der Autor sie noch fokussierter in mehreren Appendices (A - U auf noch einmal rund 170 Seiten) zusammengefasst, die z.T. den Charakter von kleinen Spezialstudien haben.
Seth Kendall hat mit seiner umfangreichen Studie ohne Zweifel einen großen Wurf vorgelegt - eine Gesamtdarstellung, die in vielerlei Hinsicht die weitere Debatte anregen und prägen wird. Die detailreiche und stets auf überzeugender Quellenarbeit beruhende Arbeit sticht vor allem durch prägnante und scharf formulierte Thesen hervor, die man nicht immer in allen Punkten wird teilen wollen oder können, die aber immer geeignet sind, die weitere Debatte ungemein zu befruchten. Kritisch anzumerken bleiben wenige Punkte: Zum einen ist sich der Rezensent nicht sicher, ob es wirklich überzeugend ist, in der Erörterung der Schlussphase des Bürgerkriegs nach der Rückkehr Sullas so wenig auf die eskalierende Gewalt einzugehen, die stark von den Paradigmen des bellum sociale geprägt war. Ethnische Differenz im spätrepublikanischen Italien ist generell eine Frage, die die Studie zugunsten eines unterstellten einheitlichen Strebens nach römischer civitas eher unterbelichtet (so bleibt z.B. auch die Frage, ob die geringen Zahlen des in cinnanischer Zeit durchgeführten Census nicht auch ein Widerspruch zu Kendalls Kernthese sein könnten). Zum anderen wird man das Interpretationsmodell einer italischen secessio durchaus anregend finden, ob es allerdings geeignet ist, alle Facetten des Aufstands schlüssig zu interpretieren, kann zumindest mit einer gewissen Skepsis gesehen werden. Insofern bleibt Kendalls Studie ein Werk, das die Debatte über das bellum sociale ebenso wie über den sullanischen Bürgerkrieg enorm prägen wird. Nur eines hätte das Buch verdient: einen besseren Lektor - die zahlreichen Buchstabendreher und Tippfehler, die das Buch enthält, stören bisweilen sehr. Das ändert aber nichts daran, dass die erste Gesamtdarstellung des italischen und römischen Bürgerkriegs eine ungeheuer anregende Lektüre darstellt.
Seth Kendall: The Struggle for Roman Citizenship. Romans, Allies, and the Wars of 91-77 BCE (= Gorgias Studies in Classical and Late Antiquity; 2), Piscataway: Gorgias Press LLC 2013, XIV + 944 S., ISBN 978-1-61143-487-3, USD 150,00
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